«Das ist eine grobe Verletzung des Demokratieprinzips»
Das Volk sagt Ja, die Kantone sagen Nein. Der Politologe Nenad Stojanović über diesen Sonderfall bei der Konzern-Initiative, den es in der Geschichte der Schweiz bisher erst einmal gab. Und er sagt, warum jetzt gehandelt werden muss.
Herr Stojanović, eine Mehrheit des Volks sagt Ja zur Konzernverantwortungs-Initiative. Doch sie scheitert am Ständemehr. Ist das Ständemehr noch zeitgemäss?
Aus rein demokratietheoretischen Überlegungen: nein. Dass jede Person gleich ist und jede Stimme gleich zählt, ist das Kernprinzip einer Demokratie. Das Ständemehr verletzt dieses Prinzip klar. In der Schweiz allerdings gibt es auch andere wichtige politische Prinzipien und insbesondere den Föderalismus.
Föderalismus wird bei uns höher gewertet als das Grundprinzip, dass jede Stimme gleich viel zählt?
Nicht höher, gleich hoch. Die Schweiz besteht aus diesen beiden Pfeilern, ja diese machen das Land erst aus. Die Pfeiler bestehen parallel, nicht in einem hierarchischen Verhältnis.
Ist das nicht problematisch?
Nicht unbedingt. Ein Beispiel, wie gut das funktioniert, ist das Parlament mit seinem Zwei-Kammer-System. Im Nationalrat zählt jede Stimme gleich. Bei den Ständeratswahlen dagegen zählen 40 Stimmen aus dem Kanton Zürich gleich viel wie eine Stimme aus dem Kanton Uri. Das lässt sich übertragen aufs Ständemehr, welches für eine gewonnene Volksinitiative genauso erfüllt werden muss wie das Volksmehr.
Wagen wir den Blick in die Geschichte: Scheitern Volksinitiativen häufig am Ständemehr?
Nein. In der Regel sind Stände- und Volksmehr miteinander im Einklang. Die erste und bis gestern einzige Ausnahme dieser Regel datiert aus dem Jahr 1955 bei der Mieter-Initiative.
Bereits fordern Politiker wie Juso-Chefin Ronja Jansen, das Ständemehr müsse auf den «Müllhaufen der Geschichte». Einverstanden?
Das ist zumindest diskussionsbedürftig. Dennoch: Bei einer Volksinitiative ist ein Widerspruch zwischen Volks- und Ständemehr wie erwähnt das erste und letzte Mal in den 1950er-Jahren vorgekommen. Das heutige Resultat hat Seltenheitswert. Anders sieht es bei den obligatorischen Referenden aus, wenn das Parlament die Verfassung ändert und dieser Entscheid zwingend vors Volk kommt. Trotz Volks-Ja scheiterte hier vor acht Jahren eine Reform der Familienpolitik am Ständemehr, ebenso wie 1994 eine Vorlage über erleichterte Einbürgerungen.
Weil solche Resultate die Ausnahme bleiben, muss das geltende System nicht zwingend überarbeitet werden?
Das erklärt, warum diese doch relativ grobe Verletzung des Demokratieprinzips nicht öfter thematisiert wird.
Also kein Handlungsbedarf?
Das würde ich nicht sagen. Aus reiner Politologen-Sicht wäre hier eine Anpassung schon angebracht und auch nötig. Es wurden dazu auch bereits mehrere Modelle angedacht.
Zum Beispiel?
Dem Föderalismus wird weiter Rechnung getragen, aber nicht mehr so stark und rigid wie heute. Möglich wäre ein neuer Schlüssel. 40 Stimmen aus dem Kanton Zürich zählten nicht mehr gleich viel wie eine Stimme aus dem Kanton Uri, sondern neu vielleicht wie zwanzig Stimmen aus Uri. Die Grösse eines Kantons würde so stärker ins Gewicht fallen. Hier gibt es allerdings ein Problem.
Welches?
Solche Reformen wurden von Politologen schon mehrfach vorgeschlagen, aber sie sind nicht mehrheitsfähig. Dies, weil sie eine Verfassungsänderung bedingen. Und diese Änderung dürfte eben genau wieder am Ständemehr scheitern. Kleinere Kantone werden sich hüten, zu so einer Änderung Ja zu sagen, weil sie sich damit ja selber schwächten. 1848 wurde unser System zementiert – seither sind Reformen in die eben angedachte Richtung nicht realistisch.
Gibt es diesen Fall auch umgekehrt, dass die Kantone Ja, das Volk aber Nein sagt?
Ja, das ist bis jetzt vier Mal vorgekommen. Das letzte Mal 2012 bei der Initiative «Gegen die Heiratsstrafe». Das ist aus demokratietheoretischer Sicht wenig problematisch: Sagt das Volk Nein, bleibt es beim Nein.
Wie erklären Sie sich das Volksmehr zur Konzernverantwortungs-Initiative?
Mit drei Gründen. Erstens: Die Befürworter haben sehr früh begonnen, Stimmung für ihr Anliegen zu machen. Die vielen orangen Fähnchen schon ein bis zwei Jahre vor der Abstimmung überall im Land waren schlicht einmalig. Zweitens hatten die Initianten dank NGOs und privaten Spenden sehr viel Geld in den Abstimmungskampf investiert – vielleicht sogar mehr als die Gegenseite. Und drittens konnte die Linke bis weit ins bürgerliche Lager mobilisieren.
Die Kriegsgeschäfte-Initiative, über die heute ja ebenfalls abgestimmt wurde, ist das gute Gegenbeispiel. Sie kommt zwar ebenfalls aus linker Küche und ist wirtschaftskritisch – konnte aber kaum über linke Kreise hinaus mobilisieren. Deshalb ist sie nicht nur am Ständemehr, sondern eben auch am Volksmehr gescheitert.
Letzte Frage: Warum hören die Schweizer eigentlich so stark auf die Wirtschaft?
Die Frage der Arbeitsplätze beschäftigt immer. Die Wirtschaft bedient hier auch bewusst und gezielt die Ängste der Menschen, dass sich ihre bestehenden Verhältnisse ändern könnten. Im Zweifel stimmen die Leute meist für die eigene Sicherheit, für den eigenen Arbeitsplatz.
Dieses Interview ist am 29. November zuerst auf www.bluewin.chExterner Link erschienen.
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