«In der Leventina fühlen wir uns etwas abgeschnitten»
Der Gotthard-Basistunnel hat Norden und Süden der Schweiz einander näher gebracht. Doch die historische Gotthard-Bergstrecke wird nur noch stündlich von einer S-Bahn befahren. Im Leventina-Tal entlang der alten Linie spürt man die Veränderung. Aber es gibt auch Vorteile: Der nächtliche Lärm durch Güterzüge gehört der Vergangenheit an.
Am 11. Dezember feiert der Gotthard-Basistunnel seinen ersten Geburtstag. Die Inbetriebnahme liegt dann genau ein Jahr zurück. Der längste Eisenbahntunnel der Welt hat die deutsche Schweiz und das italienischsprachige Tessin zusammenrücken lassen. Die Bahnfahrt ist eine halbe Stunde kürzer als früher über die historische Bergstrecke. Die Züge rauschen in 20 Minuten durch den 57 Kilometer langen Tunnel.
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Doch nicht alle profitieren von der Zeitersparnis. Für Einwohner im Leventina-Tal, Biasca, Faido und Airolo, ist die Reise in den Norden länger und umständlicher geworden. Sie müssen erst mit der Schnellbahn Tilo südwärts nach Bellinzona fahren, um dann wieder nordwärts durch den Basistunnel in die deutsche Schweiz zu kommen. Oder sie fahren in gemächlichem Tempo über die alte Bergstrecke bis Erstfeld (Uri), um von dort weiter zu kommen. Umsteigen ist auf alle Fälle angesagt.
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Die früheren Interregional-Züge (IR), die vor dem Fahrplanwechsel 2016/2017 von Basel und Zürich via Gotthard-Scheiteltunnel fuhren, verkehren nicht mehr. Diese garantierten Orten wie Biasca, Faido oder Airolo einen direkten und zügigen Anschluss nach Basel oder Zürich.
Gefühl der Isolation
«Irgendwie fühlt man sich seither abgeschnittener», sagt Fabio Pedrina. Der alt Nationalrat und Ehrenpräsident der Alpeninitiative wohnt in Airolo und ist passionierter Bahnfahrer. Das Gefühl einer Isolation in der Leventina habe zugenommen, meint er. Denn abgesehen von den entfallenen Direktverbindungen sieht man auch die Eurocity-Züge von Zürich nach Mailand nicht mehr vorbeirauschen, die stets klarmachten, dass man sich an einer internationalen Strecke befindet.
Für Touristen und Feriengäste, die mit der Bahn anreisen wollen, ist es komplizierter und beschwerlicher geworden. «Wir haben einige Beschwerden erhalten, auch von Ferienhausbesitzern», sagt Raffaele De Rosa, Direktor der Organisation für Regionalentwicklung (ERS) in Biasca. Und Airolos Gemeindepräsident Franco Pedrini weiss, dass die Postautos vom Bahnhof Airolo zur Standseilbahn Ritom nicht mehr so gut frequentiert sind wie früher.
Tessin schaut nach Norden
Weniger klar als im Tourismus sind die bisherigen Auswirkungen auf andere Wirtschaftszweige. Sicher ist nur, dass der Kanton Tessin versucht, die schnellere Verbindung nach Norden mit dem Gotthard-Basistunnel in Zukunft vermehrt zu nutzen.
So hat der Kanton Tessin Gespräche für einen Beitritt bei der Stiftung Greater Zurich Area aufgenommen, der Standortmarketing-Organisation des Wirtschaftsraums Zürich. Mit dem Gotthard-Basistunnel sind die Reisezeiten noch kürzer geworden. «Damit ergeben sich neue Möglichkeiten für die Zusammenarbeit», teilten die Partner in einer MedienmitteilungExterner Link mit. Der Kanton Tessin wolle sich vermehrt Richtung Norden orientieren.
Von einem Beitritt des Kantons Tessin erhofft man sich eine Stärkung, Ergänzung und Erweiterung der vorhandenen Kompetenzen und Netzwerke, insbesondere in Technologie intensiven Bereichen wie Life Sciences, Informationstechnologien und Mechatronik.
Trotzdem gab es keinen Einbruch im Tourismus. «Ich habe diesen Eindruck jedenfalls nicht», meint Fabrizio Barudoni, Vizedirektor des Verkehrsvereins Bellinzona und nördliches Tessin, in dessen Zuständigkeitsbereich die Leventina fällt. In Airolo unterhält der Verkehrsverein ein Büro direkt im Bahnhof und ist dort auch als Stationshalter für die Schweizerischen Bundesbahnen SBB tätig.
«Wir hatten ein sehr gutes Jahr 2017», so Barudoni. Die Berghütten waren gut besucht. Aber natürlich spielten das gute Wetter und die geopolitische Situation eine Rolle, die zum Boom beim Bergwandern beigetragen haben. «Bei vielen Gästen wissen wir häufig nicht, ob sie nun mit dem Auto oder der Bahn angereist sind», gibt er zudem zu bedenken.
Kein Lärm von Güterzügen mehr
Eindeutig verbessert hat sich die Situation in Bezug auf die Lärmbelastung. Vor allem nachts hallte das Echo der Güterzüge lautstark durchs Tal. Das ist nun vorbei, denn die Güterzüge werden alle durch den Basistunnel geführt. Die S-Bahn ist leise. Zu hören bleibt natürlich die Autobahn A2, jedoch als gedämpftes Rauschen. Und nachts dürfen keine Lastwagen verkehren.
Fabio Pedrina nennt einen anderen positiven Effekt: «Das Gefühl, abgeschnitten zu sein, hat die Einigkeit erhöht, die Autobahn bei Airolo überdecken zu wollen.» Es handelt sich um ein wichtiges Projekt zur landschaftlichen Aufwertung des verunstalteten und überbauten Talgrunds. «Früher hätte es wohl Streit gegeben, nun waren alle dafür», so Pedrina. Der Aushub aus der neuen, zweiten Röhre des Gotthard-Strassentunnels soll für diese Überdeckung genutzt werden.
Nach wie vor aktuell bleibt in der Leventina das Problem der Abwanderung. In den vier Bezirken zwischen Bodio und Airolo leben nur noch knapp 10’000 Personen. «Darum wollen wir Erstwohnsitze gezielt fördern», sagt Gabriele Gendotti, ehemaliger FDP-Staatsrat und Gemeinderat von Faido. Er glaubt daran, dass dieses Tal Potential hat, zumal geplant ist, ab Ende 2020 dank einer Zusammenarbeit zwischen SBB und Südostbahn (SOB) wieder direkte Züge von der deutschen Schweiz über die Gotthard-Panoramastrecke ins Tessin zu führen.
Boom für Tourismus in Bellinzona
Während die Bilanz in der Leventina nach einem Jahr Gotthard-Basistunnel durchzogen ausfällt, ist sie in Bellinzona fraglos positiv. Ob am Markt oder auf den als Unesco-Welterbe anerkannten Burgen: Überall waren mehr Besucher unterwegs. Gerade am umgebauten Bahnhof von Bellinzona ist das erhöhte Passagieraufkommen spürbar. «Unser neues Info-Büro im Bahnhof wurde sehr gut angenommen», freut sich Flavia Marone, Präsidentin von Bellinzona Tourismus.
Die SBB haben wiederholt erklärt, dass es 2017 einen Anstieg von 30 Prozent an Fahrgästen auf der Nord-Süd-Achse via Gotthard gab. Der Anstieg verteilte sich zu gleichen Anteilen auf Fahrgäste im nationalen und internationalen Verkehr. Der Tourismus im Tessin hat dies gespürt.
«Es war ein Superjahr», sagt Michele Santini, der vis-à-vis vom Bahnhof Bellinzona das Hotel Internazionale führt. «Noch mehr als bei den Übernachtungen haben wir dies aber bei der Gastronomie gespürt», so der junge Hoteldirektor. Tatsächlich ist feststellbar, dass sowohl die Zahl der Tagesgäste als auch jene der Übernachtungsgäste zugenommen hat.
Generell sind die Touristiker in diesem Jahr sehr zufrieden. Die Logiernächte haben gegenüber dem Vorjahr um 7 Prozent zugenommen. «Das hat nicht nur, aber auch, mit dem Gotthard-Basistunnel zu tun», sagt Lorenzo Pianezzi, Direktor des Hotels Walter Au Lac in Lugano und Präsident des Tessiner Hotelierverbandes hotelleriesuisse Ticino.
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