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Ein Jahr nach dem Streik haben die Frauen gepunktet

Vor einem Jahr waren in der ganzen Schweiz rund eine halbe Million Frauen beim Frauenstreik auf der Strasse. Das Bild hier stammt aus Zürich. © Keystone / Walter Bieri

Der Kampf um die Gleichstellung hat seit dem Frauenstreik vom 14. Juni 2019 an Fahrt gewonnen. Dazu lassen mehr Frauen im Parlament auf weitere Fortschritte hoffen. Doch noch immer hinkt die Schweiz in vielen Bereichen hinterher.

Am 14. Juni 2019 wogte eine violette Welle durch die Städte der Schweiz. Eine halbe Million Frauen waren in den Streik getreten, um der Forderung nach Gleichstellung Nachdruck zu verleihen.

Ein Jahr später gibt es Fortschritte, auch wenn der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) diese in einer MedienmitteilungExterner Link als «viel zu langsam» bezeichnet.

Zwei Wochen Vaterschaftsurlaub

Nach der grössten Mobilisierung der letzten Jahrzehnte stimmte das Parlament einer der Forderungen der Demonstrantinnen zu: der Einführung eines Vaterschaftsurlaubs von zwei Wochen. «Das ist ein kleiner Erfolg», sagt SGB-Zentralsekretärin Regula Bühlmann.

Sie ist jedoch der Ansicht, dass der Entscheid nicht weit genug geht. Sie weist darauf hin, dass die Schweiz in dieser Frage im internationalen Vergleich hinterherhinkt. Im Durchschnitt beträgt der Vaterschaftsurlaub in den 35 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nämlich zwei Monate.

Höherer Frauenanteil im Parlament

Die violette Welle – sehr viele Demonstrantinnen trugen Kleider dieser Farbe – erfasste auch die Zusammensetzung des Parlaments. Zwar besteht noch keine Parität, aber die eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2019 führten zu einer grösseren Präsenz der Frauen in beiden Kammern. Der Anteil der Frauen im Nationalrat (grosse Kammer) stieg bei den Wahlen von 32% auf 42%, im Ständerat (kleine Kammer) von 15% immerhin auf 26%.

Die Schweiz ist heute eines der Länder in Europa und der Welt mit dem höchsten Frauenanteil in der grossen Kammer.

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Die aktuelle Legislaturperiode sollte daher die Sache der Frauen weiter voranbringen. «Sie sind an der Entscheidungsfindung beteiligt, was es ermöglicht, eine ehrgeizigere Gleichstellungspolitik zu entwickeln und den Alltag der Menschen zu verändern», sagt Sylvie Durrer, Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG).

Mehr Sichtbarkeit

Der Streik von 2019 hat Gleichstellungsfragen ins Rampenlicht gerückt. «Das Thema ist in der öffentlichen Debatte und in der Gesellschaft im Allgemeinen präsenter», sagt Gewerkschafterin Regula Bühlmann.

Eine Sichtbarkeit, die auch von der Covid-19-Pandemie nicht in den Schatten gestellt wurde, wie Sylvie Durrer sagt. Bereits zu Beginn der Massnahmen zur Eindämmung des Virus richtete der Bund eine ArbeitsgruppeExterner Link ein, um abzuklären, was im Falle einer Zunahme der häuslichen Gewalt getan werden könnte.

«Dieses Beispiel spiegelt einen Perspektivenwechsel. Wäre eine solche Krise vor einigen Jahren eingetreten, wäre diese Frage kein zentrales Thema gewesen. Heute jedoch war es für alle offensichtlich», sagt die EBG-Direktorin.

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Keine Zunahme der häuslichen Gewalt

Entgegen den Befürchtungen gewisser Kreise blieben die während der Coronavirus-Krise gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt stabilExterner Link. «Die Botschaft, die wir vermitteln wollten, scheint angekommen zu sein, nämlich dass die Opfer sich jederzeit melden und versorgt werden können», sagt Sylvie Durrer.

Ein definitiver Vergleich mit den Zahlen vom letzten Jahr wird jedoch erst erfolgen können, wenn die Statistiken über Verbrechen und Opferhilfe vorliegen.

Krise rückte Arbeit der Frauen in den Vordergrund

«Der Gesundheitsnotstand hat anschaulich gezeigt, wie wichtig Frauen in der Gesellschaft als Ganzes sind», sagt Durrer. Sie weist dabei insbesondere auf überwiegend weibliche Berufe wie Pflegerinnen und Kassiererinnen hin. 

Die Anerkennung der Bürger und Bürgerinnen, die in der Coronakrise dem Pflegepersonal vom Balkon aus applaudierten, reiche nicht aus, betont der SGB. Die Organisation ruft nun zum Handeln auf und fordert, dass die Löhne in den Niedriglohnberufen, die typischerweise von Frauen übernommen werden, nachhaltig erhöht werden.

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«Da sie sich oft bereits in einer ungünstigeren wirtschaftlichen Lage befinden, kann eine Verschlechterung der Wirtschaftslage grössere Auswirkungen auf sie haben», unterstreicht Sylvie Durrer. Jetzt müsse es darum gehen, wachsam zu bleiben, um sie zu unterstützen.

Lohnungleichheit besteht weiter

Noch immer verdienen Frauen weniger als ihre männlichen Kollegen, auch wenn sich das Lohngefälle leicht verringert hat. Nach neusten ZahlenExterner Link des Bundesamts für Statistik lag es im Jahr 2018 bei 11,5%, gegenüber 12% im Jahr 2016 und 12,5% im Jahr 2014. Bei diesem Tempo wird es weitere 46 Jahre dauern, bis die volle Lohngleichheit erreicht ist.

Die Revision des GleichstellungsgesetzesExterner Link, die am 1. Juli in Kraft treten wird, ist in dieser Hinsicht ein Hoffnungsschimmer: Unternehmen mit mindestens 100 Beschäftigten sind verpflichtet zu überprüfen, ob sie ihren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gleiche Löhne zahlen; diese Lohngleichheitsanalyse muss grundsätzlich alle vier Jahre wiederholt werden, wenn Ungleichheiten bestanden. Die ersten Analysen müssen bis Ende Juni 2021 durchgeführt werden. Der Haken: Sanktionen sind keine vorgesehen.

Obschon die neue Gesetzgebung weniger verbindlich ist als die von den Gewerkschaften favorisierte Formel habe sie das Potenzial, die Situation zu verbessern, sagt Sylvie Durrer. «Wir beobachten, dass sich die Unternehmen auf das Inkrafttreten vorbereiten.

Viele rufen uns wegen Informationen an. Die Revisoren und Revisorinnen, welche die Analysen durchführen müssen, werden derzeit geschult. Das sind Elemente, die Anlass zu begründetem Optimismus geben», kommentiert sie.

Arbeitsteilung lässt zu wünschen übrig

Zwei Drittel der Hausarbeit in der Schweiz werden nach neusten Zahlen des Bundesamts für StatistikExterner Link auch heute noch von Frauen verrichtet. Und es ist gut möglich, dass sie auch die meisten zusätzlichen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Lockdown übernehmen mussten: Unterricht zu Hause, Beschäftigung der Kinder, Stressbewältigung, Hausarbeit oder Kochen. Zu diesem Thema wurden soziologische Studien gestartet.

In Frankreich hatten laut einer Umfrage, die einen Monat nach Beginn der dortigen Quarantäne durchgeführt und veröffentlicht wurde, 58% der Frauen das Gefühl, mehr Zeit als ihr Partner für Haushalts- und Erziehungsarbeit aufzuwenden, während ein Drittel der Frauen (32%) die Verteilung für ausgeglichen hielt.

Kinderbetreuung, die grosse Schwachstelle

Ohne eine Verbesserung der ausserfamiliären Kinderbetreuung im Land kann es keine Gleichstellung geben. Dies wird der feministische Kampf der nächsten Jahre sein. «Die Lösungen sind für viele Familien finanziell immer noch zu belastend, was viele Frauen dazu bringt, auf eine Stelle zu verzichten», beklagt Durrer.

Aus Mangel an finanziellen Mitteln für Kindertagesstätten und Tagesschulen ist die Betreuung durch die Grosseltern oft der einzige Ausweg. Können diese aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Zug kommen, wie es während der Pandemie der Fall war, finden einige Eltern keine anderen Lösungen.

«Die Schweiz investiert weniger als die Nachbarländer, um Familien finanziell zu entlasten, die ihre Kinder Betreuungseinrichtungen anvertrauen», sagt Sylvie Durrer.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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