«Schau an, jetzt bin ich immer noch hier»
Agnès Parodi lebte an vielen Orten, aber selten in der Schweiz. In Cannes verbringt die 104-Jährige ihren Lebensabend – ein ruhiger ist es nicht.
«Und zwei Monate», korrigiert Agnès Parodi. «Ich bin 104 Jahre und zwei Monate alt, nicht nur 104». Für die alte Dame ist jeder Tag, den sie noch leben darf, ein Supplement. Eine Bonusrunde sozusagen. «Wenn ich am Morgen aufwache, sage ich mir jeweils: Schau an, jetzt bin ich immer noch hier.»
Die Bonustage einfach so verstreichen zu lassen, ist nicht ihre Sache. Sie weiss sie so gut auszufüllen, dass dieses Treffen mit dem Schweizer Journalisten zur Nebensache wird. Den besprochenen Termin um zwölf Uhr kann sie nicht einhalten. Auf das Klingeln antwortet nur das leere Rauschen der Gegensprechanlage, es verliert sich im Grillengezirpe an der heissen Avenue des Coteaux.
«Wenn ich am Morgen aufwache, sage ich mir jeweils: Schau an, jetzt bin ich immer noch hier.»
Die 104-jährige wohnt seit über 50 Jahren in einer Block-Siedlung am Rande von Cannes. «Meine Wohnung ist im höchsten der fünf Blöcke. Sie werden es finden», versprach sie am Telefon. Die Wohnung fand sich leicht. Aber die Bewohnerin? Sie sei noch unterwegs, sagt der Hausservice unten.
Afrika und die Liebe
20 Minuten sind verstrichen, als sich eine kleine Frau dem beigen Block nähert. Sie geht ohne Stock oder Rollator – zwar langsam, doch mit sicherem Schritt. Kann es sein, dass dies die 104-jährige Frau ist? Doch doch, sie sei Agnès Parodi, versichert die alte Dame. «Es tut mir leid für die Verspätung, ich war noch in der Stadt». Sie bittet in ihre Wohnung, ihre Freundin komme auch gleich.
Es ist eine ihrer vielen Freundinnen, die Agnès Parodi heute dabei hat. Auch sie ist eine Ausland-Schweizerin, kommt ursprünglich aus dem Tessin, durchaus betagt auch sie, wenn auch zirka dreissig Jahre jünger. Kennengelernt haben sie sich in Dakar.
Es war dort, im Senegal, wo AgnèsParodi definitiv zur Ausland-Schweizerin wurde. Im Jahr 1938 zog sie nach Dakar, um zu heiraten. Ihren Mann hatte sie ein Jahr zuvor kennengelernt, nämlich im Sommer 1937. Während dieser Zeit hatte sie als Haushaltshilfe bei einem englischen Lord angeheuert und reiste mit ihm, seiner Familie und seinem ganzen Hofstaat an die Côte d’Azur in die Ferien.
«Ich weiss auch nicht, was mir genau gefallen hat an meinem Mann. Er war halt ein hübscher Bursche.»
Ein hübscher Bursche
An den Abenden hatte die damals 24-Jährige jeweils frei und ging in Cannes tanzen. In einem Club lernte sie Justin Parodi kennen, einen Franzosen, der aus Dakar kam und in Cannes in den Ferien war. Was ihr an ihm gefallen hat, kann sie nicht wirklich dingfest machen. «Ich weiss auch nicht, er war halt ein hübscher Bursche.» Sagt sie und lacht ein raumfüllendes, ansteckendes Lachen. Vor allem aber hatte er einen Narren an ihr gefressen, was ihr schmeichelte.
Die Ferien gingen vorüber und die beiden mussten sich voneinander verabschieden. Jedoch nicht, ohne vorher die Adressen ausgetauscht zu haben. Sie blieben in Kontakt und der hübsche Bursche drängte sie, ihn im Senegal besuchen zu kommen. Er arbeitete in der damaligen französischen Kolonie als Buchhalter.
Agnès Parodi liess sich überreden, sie kündigte beim Lord und reiste mit dem Schiff nach Dakar. Drei Monate blieb sie da und am Ende dieser Ferien hielt Justin Parodi um ihre Hand an. Die beiden heirateten und wohnten für 20 Jahre im Senegal. Vom Zweiten Weltkrieg spürten sie nur, dass das Essen zeitweise knapp wurde. Ihr Mann musste nicht in den Krieg, er war aufgrund einer Hörschwäche fürs Militär untauglich.
Eine Wohnung voller Erinnerungen
Im Jahr 1961, als der Senegal unabhängig wurde, zogen sie nach Cannes und kauften sich da später eine eigene Wohnung. Da sie keine Kinder bekommen konnten, reichten ihnen zwei Zimmer. Agnès Parodi lebt noch heute in dieser Wohnung.
Man sieht der kleinen Wohnung an, dass hier ein Jahrhundertleben Platz haben muss. Auf den Kommoden stehen Glückwunschkarten zum 100., 101., 102., 103. und 104. Geburtstag; die Wände sind voller Fotografien und afrikanischer Kunst, und im Wohnzimmer überquellen beide Tische und praktisch jeder einzelne Stuhl mit Papierstapeln. «So sieht es hier nicht immer aus», stellt Agnès Parodi klar. «Ich habe kürzlich den ganzen Keller geleert und alles in die Wohnung gezügelt. Jetzt bin ich am Ausmisten.» Heute habe sie jedoch keine Zeit dafür. Sie geht an den Papierstapeln vorüber und setzt sich aufs Sofa. Ihre Tessiner Freundin nimmt neben ihr Platz.
«Etwas bereue ich. Ich hätte eigentlich Köchin werden wollen.»
Zu nervös für die Küche
Vor 104 Jahren war die Welt eine andere. In Europa hatten Kaiser und Kaiserinnen das Sagen. Mittendrin die demokratische, neutrale Schweiz und am rechten Rand der Schweiz das sankt-gallische Altstätten. Hier wuchs Agnès Coray, wie sie damals noch hiess, auf. Geboren am 22. Mai 1913 als Tochter eines Schreiners und mit sieben Geschwistern.
Mit 15 zog sie von zu Hause aus und besuchte eine Haushaltsschule, danach Arbeit in verschiedenen Hotels, später beim englischen Lord. «Etwas bereue ich», sagt sie. «Ich hätte eigentlich Köchin werden wollen, wie meine grosse Schwester.» Diesen Wunsch trieben ihr die Schwester und der Vater jedoch aus. «Agnès, du bist zu nervös für diesen Beruf», mahnten sie, «es wäre viel zu gefährlich, wenn du am Herd mit dem Feuer hantierst.»
Auch heute noch, fast 90 Jahre später, kann man ahnen, was der Vater und die Schwester damit meinten. Diese Nervosität, diese Getriebenheit ist bei Agnès Parodi auch im Alter von 104 Jahren noch zu spüren. Sie hüpft beim Erzählen von Erinnerung zu Erinnerung und steht immer wieder vom Sofa auf, um ein Erinnerungsstück hervorzukramen. Oder sie telefoniert.
Gute Freunde ausgesucht
Im Viertelstunden-Takt klingelt das Telefon. Es sind ihre Freundinnen und Freunde, die mit ihr plaudern oder sie treffen wollen. «Oui, j’ai beaucoup d’amis», sie habe viele Freunde. Mindestens einmal pro Tag treffe sie jemanden. «Die Familie ist einfach da. Die Freunde hingegen kann man sich aussuchen», sagt sie «und ich habe mir gute ausgesucht». Die Tessiner Freundin neben ihr auf dem Sofa nickt. «Vor der Einsamkeit muss sich Agnès nicht fürchten.»
Zur Familie in der Schweiz behielt sie zwar stets Kontakt. Doch in den wirklich schweren Zeiten waren die Freunde für sie da.
«Die Familie ist einfach da. Die Freunde hingegen kann man sich aussuchen»
Ein dunkler Tag
Ihr Mann trug seinen schwarzen Mantel, daran erinnert sich Agnès Parodi noch ganz genau. Er hatte etwas im Auto vergessen und lief deshalb über die Strasse zurück. Ein kühler Herbsttag, der 15. Oktober 1988. Agnès Parodis Stimme zittert noch heute, wenn sie von diesem Tag erzählt. Der Autofahrer habe danach behauptet, dass er nur mit 35 km/h unterwegs gewesen sei. «Das ist eine Lüge», ruft sie. «Kein Mensch fliegt durch die Luft, wenn er mit 35 km/h erfasst wird.»
Justin Parodi starb an den Folgen dieses Unfalls. Ein paar Monate später hätten sie 50 Jahre Ehe gefeiert, die Goldene Hochzeit. Nach dem Tod ihres Mannes entschied sie sich dagegen, zurück in die Schweiz zu ziehen. In Cannes hatte sie ihre Wohnung und ihre Freunde.
Reisen bis ins hohe Alter
Mit diesen Freunden reiste sie später durch die Welt. Auf der letzten dieser langen Ausflüge war Agnès Parodi schon fast 100 Jahre alt. Sie reiste zum Schwarzen Meer. Für die Einheimischen war der Besuch einer so alten Dame ein Ereignis. «Alle wollten mit mir sprechen, die konnten es kaum glauben, eine 100-Jährige vor sich zu haben.»
Mit solch weiten Ausflügen ist es vorbei, doch kleinere Reisen unternimmt sie noch immer. «Ende August fliege ich nach Basel an den Ausland-Schweizer-Kongress, wie jedes Jahr.» Es mischt sich ein wenig Stolz in ihre Stimme: «Ich bin das älteste Mitglied der Ausland-Schweizer-Organisation.»
Keine Zeit
«So, jetzt kommen wir aber zur letzten Frage», unterbricht die Tessiner Freundin, «schliesslich hat Agnès heute noch anderes vor». Sie würden zusammen ins Restaurant am Abend, darauf müsse sie sich jetzt vorbereiten.
Also, Frau Parodi: Gibt es auch Momente, in denen Sie sich langweilen? Sie wohnen seit fast dreissig Jahren alleine in dieser Wohnung. «Nein», antwortet Agnès Parodi und lacht. «Für Langeweile habe ich keine Zeit.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch