Eine Klasse fürs Leben
Sie kommen als Kinder und Jugendliche, vertrieben von Krieg oder Armut. Ohne Sprachkenntnisse und fernab alles Vertrauten müssen sie sich in ein neues Leben integrieren. Die Schule ist in diesem Prozess ein wichtiger Anker - egal ob die neue Heimat Deutschland oder Schweiz heisst.
Wenn sie Glück haben, landen die jungen Flüchtlinge in einer Klasse wie jener von Christian Zingg. In der Schweiz hat es der Basler Pädagoge durch den Film «Neuland» bereits zu einiger Bekanntheit gebracht. Nun läuft der preisgekrönte Dokumentarfilm, der Zingg und die Schüler seiner Integrationsklasse über zwei Jahre lang begleitet, auch in deutschen Kinos und regt zum Vergleich der Integrationswege an.
«Neuland» trifft beim nördlichen Nachbarn spürbar einen Nerv. Denn wachsende Migrationsströme sind für die Schweiz und Deutschland gleichermassen Realität. Die Frage, wie es durch Schule gelingen kann, junge Menschen mit Migrationshintergrund in die eigene Gesellschaft zu integrieren, treibt entsprechend beide Länder um.
Christian Zinggs Schule in Basel war 1990 die erste im gesamten deutschsprachigen Raum, die sogenannte Integrationsklassen einführte. Seither werden dort Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren, die kurz zuvor aus aller Welt in die Schweiz kamen, innerhalb von zwei Jahren auf den Eintritt in die Arbeitswelt vorbereitet: Die Mehrzahl spricht in der ersten Woche kaum Deutsch, am Ende verstehen viele von ihnen Schweizer Dialekt, bewerben sich um Lehrstellen und scheinen bereit für ihr neues Leben.
Ein Vorbild auch für Deutschland? «Wir können uns einiges von ihnen abschauen», gesteht Franziska Giffey, frisch ins Amt eingeführte Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Neukölln mit Blick auf Basel. Ihr Lob gilt nicht nur den Integrationsklassen, sondern auch anderen Ansätze der Schweizer Nachbarn.
Basel als Vorbild
Der Kanton Basel-Stadt hat rund 200’000 Einwohner. Neukölln, Berlins Stadtteil mit dem höchsten Migrantenanteil, ist mit 325’000 Menschen erheblich grösser und zugleich nur einer von zwölf Bezirken der 3,5 Millionen-Metropole. Für Berlins internationale Gäste und Zugezogene gilt Neukölln als kreativ, hipp und cool.
Migranten in Deutschland und der Schweiz
Die Schweiz und Deutschland sind – das belegen Zahlen – Einwanderungsländer.
35% der gesamtschweizerischen Bevölkerung ab 15 Jahren weisen einen Migrationshintergrund auf. In den Kantonen Genf und Basel-Stadt liegt dieser Anteil sogar bei 61 beziehungsweise 51%.
In Deutschland lebten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2013 rund 16,5 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind 20,5% der Gesamtbevölkerung.
Besonders hoch ist ihr Anteil in Berlin. Im Bezirk Neukölln haben 42% der Menschen einen Migrationshintergrund, bei den Schülerinnen und Schülern sind es sogar insgesamt 67%, die in nicht deutschsprachigen Familien aufgewachsen sind.
Die Kriege in Syrien und Libyen sowie die Öffnung der Europäischen Union gen Osten hat die Zahl von Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern, die in Deutschland einen neuen Anfang suchen, sprunghaft steigen lassen. Allein im Jahr 2014 kamen 470’000 Zuwanderer nach Deutschland. Insofern ist das Interesse in Deutschland an erfolgreichen Integrations-Konzepten derzeit so gross wie seit Langem nicht mehr. In den Augen lokaler Politiker und in politischen Debatten trägt er den Stempel Problembezirk, in dem die Integration von überwiegend arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung darstellt. So mancher hält sie gar für vollkommen gescheitert. Zwei Drittel der Kinder hier verfügen über einen Migrationshintergrund. Anders als in Basel wachsen sie jedoch häufig in Parallelkulturen auf, die sich gegenüber Integrations-Konzepten verschliessen.
Viele verlassen die Schule ohne Abschluss. Doch das Problem beginnt viel früher: In Neukölln werden fast 40 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund mit gar keinen oder nur sehr fehlerhaften Deutschkenntnissen eingeschult: eine äussert schlechte Startvoraussetzung in eine erfolgreiche Schullaufbahn.
Franziska Giffey beobachtet daher sehr interessiert, wie der Kanton Basel-Stadt bereits in frühem Alter diesem Problem entgegenwirkt: Spricht ein Kind ein Jahr vor dem Beginn des Kindergartens kein deutsch, so muss es an zwei Nachmittagen in der Woche eine deutschsprachige Spielgruppe besuchen. Im Jahr 2003 wurde diese «obligatorische Deutschförderung» eingeführt: Und sie gilt selbstredend für den Nachwuchs des chinesischen Novartis-Mitarbeiters ebenso wie für das Kind des osteuropäischen Flüchtlings, wie Nicole von Jacobs, Integrationsbeauftragte des Kantons, unterstreicht. Seither haben sich die Deutschkenntnisse der Kindergartenkinder in Basel erheblich verbessert.
Kinder brauchen Vertrauen
Franziska Giffey plädiert aus der gleichen Motivation für einen verpflichtenden Kita-Besuch in Berlin, um den Nachwuchs aus Migrantenfamilien für den Schuleintritt fit zu machen. Doch dafür finden sich keine politischen Mehrheiten. Berlin hat mittlerweile 400 sogenannte Willkommensklassen für Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen eingerichtet. Aber sie wenden sich vorrangig an jene, die neu ins Land gekommen sind. Kinder, die bereits in Deutschland geboren wurden, sind häufig schwerer zu erreichen, weil sie sich fest in ihrer eigenen kulturellen Parallelwelt eingerichtet haben. Die deutsche Betreuung der Jugendlichen endet zudem mit der Schulpflicht, dann, wenn Integrationsklassen wie die von Christian Zingg erst beginnen. «Da haben wir in Berlin Nachholbedarf», räumt Franziska Giffey ein.
«Dabei ist Schule durchaus der geeignete und manchmal auch einzige Rahmen, um Kinder mit Migrationshintergrund zu integrieren», bestätigt Astrid Sabine Busse, die in Neukölln seit 23 Jahren eine Grundschule leitet und schon viele Integrations-Konzepte kommen und gehen gesehen hat. 92 Prozent ihrer 600 Schüler haben einen Migrationshintergrund. Und viele von ihnen gehen gerne zur Schule, in der sie laut der Schulleiterin «Zuwendung und Konsequenz» erleben.
So könnte man auch Christian Zinggs Ansatz in Basel beschreiben. Der engagierte Basler Pädagoge ist Lehrer, Vertrauensperson in allen Lebenslagen und Motivationstrainer in einer Person. Er glaubt an seine Jugendlichen, die er auf die Berufsausbildung vorbereitet, und er zeigt ihnen dieses Vertrauen Tag für Tag. Hier treffen sich alle erfolgreichen Integrations-Konzepte: Sie leben im schulischen Kontext von Lehrern, die sich wirklich für ihre Schüler interessieren.
Aus Bosnien in den diplomatischen Dienst
Negra Alic weiss aus eigener Erfahrung, wie entscheidend ein solches Vertrauen sein kann. «Als ich als Kind aus Bosnien in die Schweiz kam, war ich total verloren und wollte nur zurück», erinnert sie sich. Immer wieder Neues lernen, immer wieder Prüfungen, immer wieder Druck und die Angst zu scheitern. Zum Glück, so sagt sie, gab es Lehrer in der Schule, die sie mit viel Einsatz unterstützten und ihr etwas zutrauten «Ohne sie wäre ich heute nicht, wo ich bin», ist Negra Alic überzeugt: «Du brauchst in so einer Situation Menschen, die dir eine Chance geben und an dich glauben.» Negra Alic hat ihren Weg gemacht: Heute arbeitet sie in Deutschland im diplomatischen Dienst der Schweiz.
Seit ihrer Ankunft in der Schweiz hat sich auch strukturell einiges verändert. Vor 20 Jahren habe sie in der Schweiz noch einen «Anpassungskurs» belegen müssen, so Negra Alic. In Deutschland verlangte man zu jener Zeit von den sogenannten «Gastarbeitern» Assimilierung an die Kultur des Gastlandes. Heute ist dieses Wort ein Tabu in der Diskussion. Selbst die Verwendung des Begriffs «Integration» steht zur Debatte, denn er beschreibe, so monieren Kritiker, einen Prozess, in dem der oder die Fremde sich in eine definierte Kultur einzufügen hat. «Wir sprechen heute lieber von Inklusion», sagt die Basler Integrationsbeauftragte Nicole von Jacobs. «Die Gesellschaft muss sich öffnen und bereit sein, die Menschen aufzunehmen.» Das sei weit mehr als einseitige Anpassung.
Wenn aber das Eigene von vorne herein als der goldene Weg definiert werde, das Fremde jedoch als etwas, das sich immer daran messen lassen müsse, könne kein Miteinander auf Augenhöhe funktionieren, sagt Christian Zingg. «Wir müssen die jungen Menschen in ihren Kompetenzen und nicht in ihren Defiziten wahrnehmen», betont der Basler. Integration ist ein Geben und Nehmen von beiden Seiten, stellt der Lehrer klar. «Wir denken in der Schweiz, das was wir machen und tun, sei das einzig Richtige», kritisiert Christian Zingg. «Das müssen wir endlich ablegen.»
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