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Eine Massnahme mit ungewissem Ausgang

Im Gastgewerbe - Hotels und Restaurants - gehören die Saläre zu den tiefsten der Schweiz. Thomas Kern / swissinfo.ch

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist in der Schweiz zu einem kontroversen Thema geworden. Vergleichende Studien aus anderen Ländern, die den Mindestlohn kennen, kommen zu keinen eindeutigen Schlüssen. Yves Flückiger, Direktor des Observatoriums für Beschäftigungsfragen an der Uni Genf, erklärt die Hintergründe.

Die Volksinitiative «Für den Schutz fairer Löhne», besser bekannt als Mindestlohn-Initiative, wird demnächst im Schweizer Parlament diskutiert. Das Stimmvolk wird kaum vor 2014 über die Vorlage entscheiden. Doch schon jetzt löst diese Volksinitiative heftige Debatten aus.

In der Schweiz gibt es seit Jahren eine hitzige Debatte über faire beziehungsweise gerechte Löhne. Auslöser für die Debatte waren die exorbitanten Saläre der Top-Manager grosser Unternehmen.

Aufgrund dieser Situation wurden zwei Volksinitiativen lanciert: Zum einen die «Volksinitiative gegen Abzockerei», die am 3. März 2013 von 68% des Stimmvolks gutgeheissen wurde. Zum anderen die Initiative «1:12: Gemeinsam für gerechte Löhne», über die wahrscheinlich noch dieses Jahr abgestimmt wird. Gemäss dieser Initiative darf der höchste Lohn in einem Unternehmen den geringsten Lohn maximal um den Faktor 12 übersteigen.

Neben den Topsalären geben auch die Mindestlöhne zu reden. Der Schweizer Gewerkschaftsbund will die Pflicht zu gesetzlichen Minimallöhnen in der Verfassung festschreiben und hat eine entsprechende Volksinitiative lanciert.

Darüber hinaus wurden diverse Mindestlohninitiativen auf kantonaler Ebene lanciert. Diese Initiativen betreffen alle die lateinische Schweiz, wo sich die Wirtschaftskrise stärker bemerkbar macht und die Arbeitslosigkeit höher ist als in der deutschsprachigen Schweiz.

Vier Abstimmungen zu kantonalen Mindestlohninitiativen fanden bereits statt. In den Kantonen Waadt und Genf wurden diese bachab geschickt, in den Kantonen Neuenburg und Jura hingegen angenommen.

Vor Ende Jahr wird im Wallis über eine Volksinitiative abgestimmt, welche einen Mindestlohn von 3500 Franken fordert. Im Tessin hat die Grüne Partei kürzlich eine Volksinitiative nach jurassischem Vorbild lanciert.

Gemäss Initiative soll der Mindestlohn in der Schweiz auf 22 Franken pro Stunde festgelegt werden. Dies entspricht umgerechnet auf einen Vollzeitjob rund 4000 Franken im Monat. Dieser gesetzliche Mindestlohn muss gemäss Initiativtext «regelmässig an die Lohn- und Preisentwicklung angepasst werden, mindestens aber im Ausmass des Rentenindexes der Alters- und Hinterlassenenversicherung».

In mehreren Kantonen gab es in jüngster Zeit kantonale Urnengänge zur Einführung eines Mindestlohns, aber nur in zwei Ständen gab es eine Mehrheit für die Mindestlöhne. In zwei weiteren Kantonen sind Vorlagen hängig.

swissinfo.ch: Aus welchem Grund wurden in der Schweiz Initiativen zur Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen ergriffen?

Yves Flückiger: Meiner Meinung nach gibt es zwei Hauptgründe: Zum einen die Ängste, die mit dem Lohndumping als Folge der bilateralen Verträge mit der EU aufgekommen sind. Zum anderen die hohen Saläre für Top-Manager.

Auch wenn meiner Meinung nach die Personenfreizügigkeit nicht zu einem Lohndumping in der Schweiz geführt hat, ist dieses Argument in den politischen Debatten stets präsent. Die Diskussionen über die Abzocker-Initiative und Spitzensaläre haben gleichzeitig dazu geführt, dass man schaut, was am anderen Ende der Lohnskala passiert, das heisst bei den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten.

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swissinfo.ch: Internationale Studien zu gesetzlichen Mindestlöhnen kommen zu widersprüchlichen Schlüssen. Einmal wurden positive Auswirkungen auf die Beschäftigung festgestellt, ein anderes Mal negative. Wie erklärt sich das?

Y.F.: Es sind keine widersprüchlichen Schlussfolgerungen. Die Studien stammen aus unterschiedlichen Ländern, und somit aus unterschiedlichen Arbeitsmarktorganisationen mit unterschiedlichen Mindestlohn-Ansätzen. Dazu kommt, dass in manchen Studien nur die erwerbstätige Bevölkerung ab dem 20. Lebensjahr berücksichtigt wird, in anderen Untersuchungen hingegen die Gesamtbevölkerung.

In Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurden gesetzliche Mindestlöhne bis Mitte der 1980er-Jahre generell als negativ angesehen. Dann zeigten Untersuchungen zu den USA, dass Mindestlöhne sich unter bestimmten Bedingungen auch positiv auf die Arbeitslosen- und Beschäftigungsquote auswirken konnten.

Heute anerkennt die OECD, dass gesetzliche Mindestlöhne auch eine soziale Aufgabe im Sinne der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt haben können. Denn solche Minimallöhne garantieren, dass eine Erwerbstätigkeit attraktiver ist als der Bezug sozialer Hilfsleistungen. Dies gilt besonders für alleinerziehende Familien.

Yves Flückiger ist Vizerektor der Universität Genf und Leiter des Observatoriums für Beschäftigungsfragen (Observatoire Universitaire de l’Emploi).

Er unterrichtet Arbeitsökonomie, Industrieorganisation und öffentliche Finanzen an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.

Flückiger ist seit 1992Professor. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Karriere hielt sich Flückiger in unterschiedlichen Funktionen an den Universitäten Harvard (USA), Oxford (Grossbritannien), Deakin (Australien) sowie in Freiburg und Lausanne auf.

swissinfo.ch: Gibt es Studien, die man heranziehen könnte, um die Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns von 4000 Franken auf den Arbeitsmarkt in der Schweiz abzuschätzen?

Y.F.: Es ist äusserst schwierig, Vergleiche in einem internationalen Umfeld durchzuführen. Es sind komplizierte Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Wie gesagt: Jedes Land hat seine Eigenheiten; daher sind auch die Auswirkungen sehr unterschiedlich.

Es lässt sich aber generell festhalten, dass sich der vorgeschlagene gesetzliche Mindestlohn verglichen mit anderen Ländern auf sehr hohem Niveau bewegt. Bei 4000 Franken Mindestlohn müsste es einen Medianlohn von 6000 Franken geben, wenn man davon ausgeht, dass der Mindestlohn zwei Drittel des Medianlohns beträgt.

Zudem muss man bedenken, dass es innerhalb der Schweiz grosse Unterschiede gibt. So beträgt der Medianlohn im Tessin 5400 Franken, in Zürich hingegen 6500 Franken. Die landesweite Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken könnte folglich für das Tessin ganz andere Konsequenzen haben als für den Kanton Zürich.

Das Gleiche gilt auch für die Wirtschaftsbranchen. Für eine Branche mit einem Medianlohn von 4000 Franken oder weniger würde es bedeuten, dass mindestens der Hälfte aller Beschäftigten der Lohn erhöht werden müsste.

In diesen Branchen könnte eine solche Regelung daher weitreichende Konsequenzen haben und sogar zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen. Ich denke etwa an Sparten mit einfachen Dienstleistungen (Putzbetriebe, Wäscherei, Institute für Körperhygiene, etc.), wo es Medianlöhne von 3700 Franken gibt, oder an Bereiche wie Hotellerie und Gastronomie mit Medianlöhnen um die 4100 Franken.

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swissinfo.ch: Wäre das vom Kanton Jura angewandte Modell mit branchenspezifischen Mindestlöhnen auf die ganze Schweiz anwendbar?

Y.F.: Auf alle Fälle. Denn eine der grossen Schwierigkeiten bei einer nationalen Herangehensweise ist die Tatsache, dass einheitliche Mindestlöhne dann für unterschiedliche Regionen gelten, in denen die Lebenshaltungskosten sehr unterschiedlich sind. Die Lösung des Kantons Jura wäre in dieser Hinsicht sicherlich einfacher auf die unterschiedlichen Branchen und Regionen anwendbar sowie auf Arbeitsbereiche mit Gesamtarbeitsverträgen (GAV).

Man darf bei dieser Debatte aber nicht vergessen, dass die Schweiz Mindestlöhne kennt, die jedoch in den Gesamtarbeitsverträgen und je nach Branche und Region festgelegt sind. Meiner Meinung nach wäre es angebracht, Schritt für Schritt die Mindestlöhne in allen GAV festzuschrieben und den Geltungsbereich dieser Verträge auszuweiten.

Die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit gehen bereits in diese Richtung. Aber man müsste noch mehr machen.

swissinfo.ch: Würde die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen die Sozialpartnerschaft und den GAV schwächen?

Y.F.: Das glaube ich nicht. Die GAV regeln bereits viele Aspekte des Arbeitslebens, nicht nur Lohnfragen. Mehr noch: In einigen GAV werden die Löhne nicht einmal erwähnt.

Ich bin überzeugt, dass die Schweiz schwierige und komplexe wirtschaftliche Situationen gut gemeistert hat, weil der Arbeitsmarkt auf nicht zentralistisch erarbeiteten Einigungen zwischen Sozialpartnern fusst. So lassen sich je nach Fall adäquate Lösungen finden. Der soziale Dialog spielt immer noch eine wichtige Rolle.

Die Anhebung des Mindestlohns von 7,25 auf 9 Dollar pro Stunde gehört für US-Präsident Barack Obama zu den erklärten Zielen seiner zweiten Amtsperiode.

Dieser Ansatz entspricht ungefähr 40% des Medianlohns in den USA. In der Schweiz würde die Anwendung einer solchen Formel bedeuten, dass der Mindestlohn ungefähr 2400 Franken betragen müsste. Gemäss Professor Yves Flückiger von der Universität Genf lassen sich die Verhältnisse in den beiden Ländern aber nicht direkt vergleichen.

Zudem dient der Mindestlohn in den USA laut Flückiger auch als Instrument der Makroökonomie: Den untersten Einkommensschichten sollen mehr Mittel gegeben werden, um den internen Konsum anzukurbeln.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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