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Eine Waffe gegen Super-Keime kommt aus dem Rhein

Bakteriophagen unter dem Elektronenmikroskop
Bakteriophagen, die 2022 aus dem Rhein in Basel isoliert wurden. Alexander Harms

Resistente Bakterien gehören zu den grössten Gefahren für die menschliche Gesundheit. Eine einzigartige Sammlung von Bakteriophagen hilft Forscher:innen auf der ganzen Welt bei der Entwicklung neuer Therapien gegen ansonsten unheilbare Infektionen. Die Viren, die Bakterien infizieren, wurden in der Schweiz isoliert.

Angesichts der Covid-19-Pandemie mag es paradox klingen, von heilsamen Viren zu sprechen. Doch: Tatsächlich sind nicht alle Viren schädlich für unsere Gesundheit. Jene, die Bakterien infizieren, können sehr nützlich sein und Leben retten, wie der Mikrobiologe Alexander Harms sagt. Diese Viren nennt man Bakteriophagen oder einfach Phagen.

Allerdings ist noch wenig über Phagen bekannt. «Sie zu erforschen ist wie die Erkundung der verborgenen Seite des Mondes», so Harms. 

Eine Mission ins Unbekannte, die der deutsche Forscher 2019 zusammen mit einer Gruppe von Gymnasiast:innen gestartet hat. Während eines Sommerkurses in Basel, Schweiz, sammelten und charakterisierten sie Proben von natürlich vorkommenden Bakteriophagen. Heute sind diese Viren eine wichtige Ressource für Forschungsinstitute auf der ganzen Welt und könnten in Zukunft zur Behandlung von bakteriellen Infektionen beitragen.

Mann im weissen Kittel in einem Labor
Alexander Harms untersucht die Eigenschaften von Bakteriophagen. swissinfo.ch

Bakterienkiller

Phagen gehören zu den am häufigsten vorkommenden und am weitesten verbreiteten biologischen Einheiten auf der Erde. Ihre Zahl geht in die Billionen, und sie sind in praktisch jedem Ökosystem der Erde zu finden, vom Waldboden bis zur Oberfläche der Ozeane. Phagen spielen eine zentrale Rolle in der Ökologie und im Kohlenstoffkreislauf. So tragen sie beispielsweise, indem sie Meeresbakterien zersetzen, zur Verbreitung von Nährstoffen bei.  

«Sie gehören zu den treibenden Kräften unseres Planeten», sagt Alexander Harms, bis letztes Jahr Mitarbeiter am BiozentrumExterner Link der Universität Basel, einem auf molekulare und biomedizinische Grundlagenforschung spezialisierten Institut, und jetzt Mitarbeiter am Institut für Lebensmittel, Ernährung und Gesundheit der ETH Zürich. 

Phagen sind auch in unserem Körper vorhanden. Sie greifen zwar keine menschlichen Zellen an, können aber die Zusammensetzung der Bakterienpopulation beeinflussen. Ihr Einfluss auf die DarmfloraExterner Link ist jedoch noch wenig erforscht.

Die folgende Animation (auf Englisch) veranschaulicht den Lebenszyklus eines Bakteriophagen:

Externer Inhalt

Die Fähigkeit, Bakterien selektiv zu infizieren – ein Phage erkennt nur eine bestimmte Bakterienart und oft nur bestimmte Stämme dieser Art – macht sie laut Harms äusserst interessant für die Forschung.

Phagen können krankheitserregende Keime zerstören, die Lebensmittel verunreinigt haben, zum Beispiel im Fall von Salmonellen, oder sie können zur Behandlung von bakteriellen Infektionen der Harnwege oder der Atemwege eingesetzt werden. 

Das Interesse an Phagen, die sogenannte «schlafende» Bakterien angreifen, welche für chronische Infektionen verantwortlich sind, hat Alexander Harms dazu veranlasst, sich mit Reagenzgläsern auszurüsten und sich auf die Suche nach Bakteriophagen in der Natur zu machen.

Neue Bakteriophagen in den Gewässern des Rheins

Im Sommer 2019 sammelten Harms und eine Gruppe von Gymnasiast:innen im Rahmen der «Basel Summer Science Academy», einem vom Biozentrum organisierten Sommerkurs, Wasser- und Bodenproben im Rhein, in Teichen, Kompostieranlagen und Kläranlagen in der Region Basel. «Wir wussten nicht, was uns erwartet», erinnert er sich.

Ein Mann und eine Frau am Rhein in Basel
Das Team unter der Leitung von Alexander Harms hat auch Wasserproben im Rhein in Basel entnommen. Alexander Harms

Im Labor isolierte Harms› Team eine grosse Anzahl von Bakteriophagen, die Escherichia coli infizieren (eines der am weitesten verbreiteten Darmbakterien, das in der Regel harmlos ist, aber in einigen Fällen schwere Krankheiten verursachen kann), und beschrieb ihre Eigenschaften im Detail. Das Ergebnis, das zwei Jahre später in der Fachzeitschrift PLOS BiologyExterner Link veröffentlicht wurde, ist eine Sammlung von 70 Phagenarten. 

«Die Sammlung bestätigt, dass ähnliche Phagengruppen überall auf der Welt, von China bis zu den USA, die gleichen Aufgaben und Funktionen erfüllen. Das hat mich wirklich überrascht», sagt Alexander Harms. 

Noch wichtiger ist, dass es sich um eine erste Darstellung der Vielfalt der Phagen handelt, die Escherichia coli infizieren. Es gibt weltweit grössere SammlungenExterner Link mit bis zu Hunderten von Phagen, aber keine charakterisiere sie so systematisch wie die in Basel, sagt der Forscher. 

Die Sammlung ist auch für Wissenschaftler:innen im Ausland nützlich, die Phagen zur Behandlung bakterieller Infektionen als Alternative zu Antibiotika einsetzen wollen. Als vielversprechend haben sie sich insbesondere bei der Bekämpfung von Bakterien erwiesen, die Geschwüre und chronische Wunden bei Diabetiker:innen infizieren und oft in Amputationen resultieren.

Petrischale mit einer Bakterienkultur
Mit Bakteriophagen infizierte Escherichia Coli-Kultur. Die Flecken zeigen an, dass das Bakterium zerstört wurde. swissinfo.ch

Die Wiederbelebung der Phagen in der Medizin

Die Idee, Phagen in der Medizin – intravenös oder als Aerosol – zu nutzen, kam bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf, insbesondere in der ehemaligen Sowjetunion. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Phagen zur Behandlung von Soldaten eingesetzt, die an der Ruhr und anderen bakteriellen Infektionen litten. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung von Antibiotika – Penicillin wurde 1929 entdeckt – geriet die Erforschung dieser nützlichen Viren jedoch in den Hintergrund, zumindest im Westen. 

Doch mit der Zunahme der Antibiotikaresistenz in der ganzen Welt sind Infektionen, wie Lungenentzündung oder Tuberkulose, immer schwieriger zu behandeln. Laut einer im Jahr 2022 veröffentlichten StudieExterner Link ist die Antibiotikaresistenz für den Tod von mehr als 1,2 Millionen Menschen weltweit verantwortlich. Das sind mehr Todesfälle als durch HIV oder Malaria verursacht werden und die Zahl könnte bis 2050 auf 10 Millionen pro JahrExterner Link ansteigen. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet die Antibiotikaresistenz heute als  ernste Bedrohung für die Gesundheit der MenschheitExterner Link. Die westlichen Länder haben entsprechend die Erforschung von Phagentherapien intensiviert, die kaum Nebenwirkungen und nur geringe Risiken haben.

Die gleichen Anforderungen wie bei anderen Arzneimitteln

Doch obwohl viel diskutiert, ist der therapeutische Einsatz von Bakteriophagen laut Harms noch nicht so weit verbreitet. Der Prozess der Identifizierung des Bakteriums, das für eine Infektion verantwortlich ist, und die Auswahl des Phagen, der es abtötet, kann komplex und teuer sein. Phagen können für die Immunreaktion des Körpers anfällig sein oder, wie Antibiotika, bei wiederholter Verabreichung eine Resistenz hervorrufen. 

Zudem ist ein Bakteriophage – im Gegensatz zu einem Antibiotikum mit seinen genau definierten und stabilen und daher replizierbaren Eigenschaften – komplexer und kann mutieren. Eine Eigenschaft, die es schwierig macht, eine Zulassung für den therapeutischen Einsatz zu erhalten. «Phagenpräparate, die zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden, müssen die gleichen Anforderungen erfüllen wie alle anderen Arzneimittel», erklärt Lukas Jaggi, Sprecher der schweizerischen Zulassungsstelle Swissmedic. 

Bislang sind in der Schweiz keine solchen Präparate zugelassen. Allerdings wurde 2015 eine klinische StudieExterner Link gestartet. Auch sei nicht auszuschliessen, dass Ärzt:innen in Einzelfällen Phagen aus dem Ausland zur Behandlung von Infektionen eingesetzt hätten, so Jaggi.

Vom Rhein nach Australien

Alexander Harms hofft, dass die Basler Phagensammlung die Erforschung wirksamer Therapien weiter vorantreiben wird, nicht nur im Humanbereich. «Phagen könnten sich auch im Kampf gegen pflanzenzerstörende Bakterien als nützlich erweisen», sagt er. Phagenpräparate könnten beispielsweise auf Olivenhaine gesprüht werden, die von Xylella fastidiosa befallen sind, einem Bakterium, das für das Absterben Tausender von Pflanzen in Apulien verantwortlich ist, oder auf Apfel- und Birnenplantagen in der Schweiz, die vom «Feuerbrand» befallen sind. 

Bislang haben mehr als 40 Laboratorien in der ganzen Welt Phagen aus der Schweizer Sammlung angefordert. Ob sie dann Leben oder Pflanzen retteten, weiss Harms noch nicht, weil die entsprechenden Studien noch nicht veröffentlicht sind. Es sei aber «ein besonderes Gefühl» zu wissen, dass die im Basler Rhein gesammelten Bakteriophagen, vor allem im Rahmen eines Projekts mit wenig finanziellen Mittel, nun für Forschungsprojekte in Australien oder der USA verwendet würden, sagt er. 

«Ich möchte unsere Phagen mit allen interessierten Menschen überall auf der Welt teilen. So funktioniert Wissenschaft», sagt er.

Editiert von Sabrina Weiss, aus dem Italienischen übertragen von Marc Leutenegger.

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