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Entdeckung eines anderen Deutschlands

Birgit Müller engagiert sich für den Austausch zwischen Potsdam und Luzern. swissinfo.ch

Der Mauerfall eröffnete 1989 ein gänzlich neues Kapitel für die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland. Zuvor abgeschottete Städte, Menschen und Landschaften in Ostdeutschland waren plötzlich erreichbar. Beide Seiten nutzten die unerwartete Chance: Sie gründeten Städtepartnerschaften, Wirtschaftsbeziehungen und schlossen Ehen. 

Das idyllische Luzern und das geschichtsträchtige Potsdam südwestlich von Berlin lagen zu DDR-Zeiten gefühlte Welten voneinander entfernt.  So fern, dass die Potsdamerin Birgit Müller damals keinen Gedanken an die Alpenrepublik verschwendete. «Ich wusste ja, dass ich dort nicht hin konnte.» Es kam bekanntlich anders. Die Kommunalpolitikerin fährt nun seit Jahren nicht nur regelmässig an den Vierwaldstättersee, sondern leitet obendrein den Freundeskreis Potsdam – LuzernExterner Link

 Die Schweiz und die DDR hatten zwar 1972  diplomatische Beziehungen aufgenommen. Politisch und wirtschaftlich hätte die Kluft zwischen dem sozialistischen und repressiven System der DDR und der kapitalistischen, reichen Schweiz mit seiner gelebten plebiszitären Demokratie indes kaum sein können. Trotz eisiger politischer Beziehungen lebten Schweizer in der DDR. Sie waren entweder Nachkommen von Schweizer Staatsangehörigen, die bereits vor der deutschen Teilung dort ihren Wohnsitz hatten – und ihre Heimat nicht aufgeben wollten. Oder sie kamen aus idealistischen Gründen. So siedelten beispielsweise zwischen 1946 und 1950 rund 30 Schweizer Kommunisten in die DDR über, angezogen von der Idee des real existierenden Sozialismus. Noch heute hat etwa der Schweizer Club Dresden 20 Mitglieder mit Schweizer Pass, die bereits vor der Wende in Ostdeutschland wohnten.  Sie verfügten über ein wichtiges Privileg: Mit ihrem Schweizer Pass genossen sie – im Gegensatz zu DDR Bürgern – Reisefreiheit.

Es war allerdings nicht Birgit Müllers Sehnsucht nach den Alpen, sondern die Eisenbahnleidenschaft ihres Mannes, die sie mit der Schweiz in Kontakt brachte. Der interessierte sich nach der Wende brennend für die Eröffnung eines neuen Abschnitts der Dampfbahn Furka-Bergstrecke. Folglich reiste die ganze Familie 1992 nach Andermatt. «Es regnete und war kalt», erinnert sich Birgit Müller. Und doch erwachte in diesen Tagen ihre Liebe zur Schweiz. «Die Berge und Seen haben mich sehr fasziniert», erzählt die begeisterte Wanderin. 

Reger Austausch

Als sich dann im Jahr 2002 ihre Heimatstadt Potsdam offiziell mit Luzern verbandelte, beschloss sie, mitzumachen. Seither ist der Austausch auf vielen Ebenen lebendig. Sportler nehmen wechselseitig an Wettkämpfen teil, Schulklassen  und Praktikanten fahren in die Partnerstadt, die Rudervereine besuchen sich, Künstler und Musiker kommen zu Auftritten. Auch offiziell ist Luzern im Potsdamer Stadtbild präsent: Eine Tram trägt seit 2011 den Namen der Schweizer Stadt. 2016 soll dann auch eine Strasse in Potsdam nach Luzern benannt werden.

Städtepartnerschaften müssen von Menschen mit Leben ausgefüllt werden, weiss  Birgit Müller, die auch Vorsitzende der Potsdamer Stadtverordneten-Versammlung ist. Sie organisiert und begleitet regelmässige Bürgerreisen nach Luzern. Es sind in erster Linie die grossartige Natur und der besonders Charme der Schweiz, der die Potsdamer in das Alpenland zieht. Die gelebten Schweizer Klischees der Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ruhe und Gelassenheit – «dass einfach alles immer perfekt funktioniert», wie Birgit Müller begeistert erzählt. In diesem Punkt unterscheidet sich die Schweiz-Idylle der Ostdeutschen nicht von jener der Westdeutschen.

Schweizer hingegen finden in den neuen Bundesländern etwas, das ihnen die alte Bundesrepublik nicht bieten kann: Spuren und Erinnerungen an ein untergangenes Land und System, das fremd und faszinierend zugleich erschien. «Für mich war die DDR befremdlich, exotisch und spannend zugleich», erinnert sich der Luzerner Historiker und Gymnasiallehrer Jürg Stadelmann.

Anschauungsunterricht für junge Schweizer

Als Vorsitzender des Vereins Luzern-PotsdamExterner Link trägt er auf Schweizer Seite erheblich dazu bei, die Städtepartnerschaft mit Leben zu füllen. Seit neun Jahren fährt der Historiker regelmässig mit Luzernern Schülern nach Potsdam. Hier kann er den Teenagern zeigen, wie ganz unterschiedliche Herrscher, Systeme und Menschen durch die Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen haben. Beim Gang durch Potsdams Innenstadt präsentieren sich Preussens Glorie, Nationalsozialismus, DDR und die Folgen der Wiedervereinigung, ein nicht immer harmonisches Mosaik aus Stilen und Epochen.

Jürg Stadelmann, Vorsitzender des Vereins Luzern – Potsdam, mit Schülern in Potsdam. swissinfo.ch

«Schweizer Städte haben nie Kriegsschäden erfahren. Wir mussten uns nie Gedanken machen, wie wir unsere Städte wieder aufbauen, ob wir Altes rekonstruieren oder durch Zeitgenössisches ersetzen», sagt Jürg Stadelmann. Er sieht es durchaus kritisch, dass in Potsdam «das 18. Jahrhundert mit der Zahnbürste hervorgeholt wird“ und Gebäude aus der DDR-Zeit nach und nach aus dem Stadtbild verschwinden.

Wie die Menschen Potsdams wiederum mit ihrer Geschichte umgehen, erleben die Schweizer Schüler in  Begegnungen mit Zeitzeugen. Laut Stadelmann bilden diese Treffen einen der Höhepunkte seiner Reisen. «Die Schüler sind immer wieder erstaunt, dass einige Gesprächspartner den Untergang der DDR durchaus bedauern.» Dem zuweilen  nostalgischen DDR-Bild stellt der Besuch des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Potsdam dann die politische Realität des DDR-Regimes gegenüber: «Danach sind alle immer spürbar platt.»

Blühende Wirtschaftsbeziehungen

Für den Historiker Stadelmann ist das DDR-Erbe unverzichtbarer Teil seiner Besuche, doch die Schweizer Wirtschaft lebt ganz im Hier und Jetzt der neuen Bundesländer. Insbesondere der Freistaat Sachsen hat sich zu einem wichtigen Investitionsstandort und Handelspartner für die Schweiz entwickelt. 9500 Arbeitsplätze sind laut der Wirtschaftsförderung Sachsen dort in zahlreichen Niederlassungen von Schweizer Unternehmen wie der Spedition Kühne und Nagel oder der Giesserei Georg Fischer entstanden.

«Die Schweiz ist nach den USA der grösste Investor in Sachsen», sagt Björn Marcus Bennert, Präsident des Schweizerisch Deutschen WirtschaftsclubExterner Link in Dresden. Was macht Sachsen attraktiv? «Gut ausgebildete Fachkräfte zu einem niedrigen Lohnniveau», sagt er. Der im Vergleich zum Schweizer Franken relativ schwache Euro tut sein Übriges. Für Schweizer Unternehmen zahlt es sich entsprechend aus, ihre Produktion in den Osten Deutschlands zu verlagern. Zumal dort häufig auch ansehnliche Fördermittel locken.

Umgekehrt verdienen viele Männer und Frauen aus den neuen Bundesländern in der Schweiz ihr Geld – und freuen sich über gute Einkommen. «Sie kommen mir am Wochenende auf der Autobahn entgegen, wenn sie nach Sachsen und ich in die Schweiz fahre», so der Schweizer Bennert.

Und nicht zuletzt die Liebe

Zu guter Letzt sind aus all diesen vielschichtigen Beziehungen zwischen der Schweiz und den neuen deutschen Bundesländern  Partnerschaften und Ehen hervorgegangen – sie sind der Kitt, der die Schweiz und Ostdeutschland zunehmend auch emotional verbindet.

Auch der Schweizer Rudolf Schlatter kam 1993 nach Leipzig, um dort Direktor des Naturkundemuseums zu werden. Kurz darauf traf er seine jetzige Frau Beate, die in der Leipziger Stadtverwaltung arbeitete.  1994 heirateten die beiden, und sie sind längst keine Ausnahme mehr. «Bei uns im Schweizer ClubExterner Link gibt es drei Paare aus ostdeutschen Frauen und Schweizer Männern», erzählt Beate Schlatter. «Vielleicht ist das ja eine gute Kombination.»

Die Berliner Mauer fiel am 9. November 1989 genauso schnell und unerwartet, wie sie 28 Jahre zuvor entstanden war. Das DDR-Regime hatte in der Nacht auf den 13. August 1961 ihre Grenze zu den westlichen Sektoren mit Stacheldraht abgesperrt.

In den kommenden Tagen errichteten Soldaten mitten durch die Stadt eine Mauer, die im Laufe der Jahre zu einer unüberwindlichen Todeszone ausgebaut wurde. Der «antifaschistische Schutzwall», wie die DDR-Propaganda das Bauwerk nannte, sollte das Ausbluten der DDR verhindern. 2,6 Millionen DDR-Bürger hatten bis 1961 bereits ihren Staat verlassen, um ihr Glück im Westen zu suchen. Von August 1961 an waren sie dann Gefangene im eigenen Land.

Auf 43 Kilometern teilten 3,60 Meter hohe Betonelemente Berlin entzwei. Weitere 112 Kilometer Mauer umrundeten West-Berlin und machten es zur Insel innerhalb der DDR.  302 Beobachtungstürme und 12’000 Soldaten sicherten die Sperranlage, fast 1000 Hunde bewachten sie. 136 DDR-Bürger wurden bei dem Versuch, die Mauer in Berlin zu überwinden, getötet.

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