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Die Schweiz pokert hoch mit der EU

«Es bewegt sich etwas im Verhältnis Schweiz – EU»

Livia Leu
Die schwierige Mission von Staatssekretärin Livia Leu: Sie erkundet in Brüssel das Terrain für die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der EU. © EDA

Die Schweiz und die EU tasten ab, wie die zukünftigen Beziehungen aussehen könnten. Laut der Schweizer Chefunterhändlerin Livia Leu scheint die EU bereit, bei der Unionsbürgerrichtlinie die Schweizer Interessen mit Ausnahmen zu berücksichtigen.

Im Mai 2021 brach die Schweizer Regierung Verhandlungen mit der EU zu einem institutionellen Rahmenabkommen ab. Die Schweiz möchte lieber den bilateralen Weg fortsetzen. Die EU reagierte zunächst verschnupft – unter anderem strich sie die Schweiz von der Liste der assoziierten Staaten beim Forschungsprogramm Horizon Europe.

Inzwischen haben sich die Schweiz und die EU in Sondierungsgesprächen wieder angenähert. Die EU ist mit dem von der Schweiz vorgeschlagenen Paketansatz grundsätzlich einverstanden. Trotzdem sind aus Schweizer Sicht noch viele Fragen offen.

Die Schweizer Diplomatin Livia Leu führt seit zwei Jahren die Gespräche mit Brüssel über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

Leu studierte an den Universitäten Zürich und Lausanne. Sie hat ein Lizentiat der Rechte und ein Anwaltspatent des Kantons Zürich. 1989 trat sie in den diplomatischen Dienst ein.

Sie war in verschiedenen Funktionen für das Aussendepartement tätig, unter anderem als Missionschefin im Iran und als Schweizer Botschafterin in Frankreich und Monaco. Dazwischen war sie auch Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge und Leiterin des Leistungsbereichs Bilaterale Wirtschaftsbeziehungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO).

Im Oktober 2020 ernannte der Bundesrat sie zur Staatssekretärin für auswärtige Angelegenheiten und zur Chefunterhändlerin für die Verhandlungen mit der Europäischen Union.

Quelle: EDAExterner Link

swissinfo.ch: Der Bundesrat will die Sondierungsgespräche weiterführen, die EU ist der Meinung, es reiche jetzt. Wo will die Schweiz noch mehr herausholen?

Livia Leu: Es bewegt sich etwas im Verhältnis Schweiz – EU. Wir führen seit Ende März Sondierungsgespräche. Diese beziehen sich auf den von der Schweiz vorgeschlagenen Paketansatz, enthalten also verschiedene Elemente. 

Einerseits die institutionellen Fragen, die der EU sehr am Herzen liegen. Für uns ist wichtig, dass im Paketansatz eine Erweiterung des bilateralen Weges vorgesehen ist, also zusätzliche Abkommen, aber auch die Sicherstellung der Programmkooperation – Stichwort Horizon Europe.

Wir haben bisher in verschiedenen Bereichen ein klareres Verständnis miteinander erarbeitet, wo wir hinzielen. Es bleiben aber noch offene Fragen. Deshalb geht der Prozess weiter.

Stimmt es also, dass der Bundesrat beim Lohnschutz und der Zuwanderung verbindliche Zusicherungen der EU erwartet, bevor er überhaupt verhandeln will?

Das sind sicher Themen, die sehr wichtig sind, bei denen wir stärker in die Tiefe gehen, um uns richtig zu verstehen.

Man darf aber nicht vergessen: Es handelt sich um Sondierungsgespräche. Es sind noch keine Verhandlungen. Und es sind in diesem Sinne auch noch keine rechtsverbindlichen Konzessionen möglich, das wäre erst in einem nächsten Schritt – nämlich in Verhandlungen – möglich.

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Man kann aber natürlich – wenn man mehr in die Tiefe geht – ein besseres Verständnis dessen erarbeiten, wo die Zone ist, in der man sich finden muss.

Laut dem Bericht des Bundesrates ist die EU offenbar bereit, der Schweiz Zugeständnisse zu machen. Welche?

Im Bereich der Personenfreizügigkeit diskutieren die Schweiz und die EU ja schon sehr lange. Beispielsweise über Fragen des Lohnschutzes, aber auch der Zuwanderung.

Hier geht man heute sehr viel weiter in die Tiefe. Man hat beispielsweise die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie früher gesamthaft ausgeschlossen aus den Diskussionen, heute schaut man sie genauer an, um zu verstehen, wo es Probleme gibt und wo wir die essenziellen Interessen der Schweiz absichern müssen – beispielsweise mit Ausnahmen.

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Warum ist auf die «Freunde der Schweiz» weniger Verlass als auch schon?

Die Schweiz hat sehr gute Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten, ganz besonders zu ihren Nachbarn. Bundespräsident Cassis hat in seinem Präsidialjahr viele von ihnen besucht, er war gerade kürzlich beim französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Paris und Sergio Mattarella [Italiens Präsident, A.d.R.] war soeben in der Schweiz auf Staatsbesuch. Die Beziehungen sind also gut und intensiv. Und das hilft natürlich, Vertrauen aufzubauen, auch in Bezug auf die Position der Schweiz in Europa.

Wir erhalten durchaus Unterstützung von unseren Nachbarn. Beispielsweise haben sich bei Horizon Europe sowohl Deutschland als auch Österreich für unsere Assoziierung eingesetzt. Aber sie sind letzten Endes nicht diejenigen, welche die Gespräche führen oder die Verträge anwenden, das tut die EU-Kommission.

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Wenn sich innerhalb der EU Gräben auftun, zum Beispiel wegen der Energiekrise oder dem Ukraine-Krieg, kann die Schweiz daraus Kapital schlagen?

Vorab: Von diesem Krieg profitiert gar niemand, auch nicht die Schweiz. Was dieser Krieg aber bewirkt hat: Die Länder Europas sind näher zusammengerückt und es ist ein tieferes Verständnis unserer Wertegemeinschaft entstanden, zu der natürlich auch die Schweiz gehört.

Dieser Angriffskrieg hat zu einer gewissen Dynamisierung geführt, innerhalb von Europa beispielsweise mit dem ersten Treffen der ‹Europäischen Politischen Gemeinschaft›.

Man hat auch gesehen, dass die EU mit den Balkanstaaten die Frage ihres Beitritts wieder aktiv aufgenommen hat. Es gibt mehr Dynamik in der Art und Weise, wie man miteinander zusammenarbeiten möchte.

Und wie wirkt sich das auf die Schweiz aus?

Der Bundespräsident war beispielsweise am Treffen der ‹Europäischen Politischen Gemeinschaft› in Prag dabei.

Diese neue Initiative ist für uns eine sehr interessante Option, hier mit allen Ländern in Europa zusammenzuarbeiten, ohne dass dies einen spezifischen Rahmen hat. Allerdings ist es noch ein sehr junges und offenes Gebilde.

>> Aus dem Archiv von SRF: Interview mit Livia Leu vom 04.11.2022

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Dann würden Sie also zustimmen, dass der Ukraine-Krieg und die Energie-Krise die EU-Frage für die Schweiz dynamisiert oder zumindest Bewegung in die Sache reingebracht haben?

Nun, Sie erinnern sich vielleicht, der Bundesrat hat seine Vorschläge für einen Paketansatz mit der EU vor dem russischen Angriff auf die Ukraine verabschiedet. Es ist also nicht so, dass der Bundesrat aufgrund des Kriegs gefunden hat, jetzt legen wir los.

Nein, der Bundesrat hat sich nach der Beendigung der Verhandlungen zu einem institutionellen Rahmenabkommen intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie wir den bilateralen Weg weitergehen wollen. Die EU hat von uns Vorschläge erwartet. Und diese Vorschläge hat der Bundesrat konkret am 23. Februar verabschiedet – ein Tag vor Kriegsausbruch.

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