«Es ist, als ob wir nichts für das Klima getan hätten»
Der Klimawandel ist die Ursache für die Hitze und die aussergewöhnlichen Regenfälle, die in diesem Sommer mehrere Regionen der Welt heimgesucht haben, sagt die Schweizer Forscherin Sonia Seneviratne, Mitautorin des neuen UNO-Klimaberichts.
Fast 50 Grad Celsius in Kanada, nie dagewesene Überschwemmungen in Deutschland, eine historische Hitzewelle im östlichen Mittelmeerraum und Rekordniederschläge in der Schweiz: Zynisch ausgedrückt, könnte es keinen besseren Zeitpunkt für die Veröffentlichung des neuen Klimaberichts geben.
Sieben Jahre nach dem Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC), der die Verantwortung des Menschen für den globalen Temperaturanstieg feststellte, kommt das heute veröffentlichte neue UNO-Expertenpapier zu einem weiteren düsteren Ergebnis.
Aussergewöhnliche Wetter-Ereignisse, wie sie in diesem Sommer in verschiedenen Regionen der Welt zu Schäden und Opfern geführt haben, wären ohne die von uns allen verursachten Treibhausgas-Emissionen nicht möglich gewesen.
>> Hintergrund: Klimaberichte: Wie sie erstellt werden und warum sie wichtig sind
«Was in diesem Sommer geschehen ist, hat mich schockiert. Aber ich bin nicht überrascht: Es tritt ein, was von den Klimamodellen vorhergesagt wurde», sagt Sonia Seneviratne, Mitautorin des IPCC-Berichts.
Die Schweizer Klimatologin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) wird von der Nachrichtenagentur Reuters als eine der zehn einflussreichsten Klimaspezialistinnen und -spezialisten der Welt bezeichnet.
Mehr
Die brillante Forscherin, die nichts von ihrer Genialität weiss
SWI swissinfo.ch: Was sind die wichtigsten Ergebnisse des neuen Klimaberichts?
Sonia Seneviratne: Der Bericht ist wichtig, weil er den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel darstellt. Die Beweise für eine vom Menschen verursachte Erderwärmung sind sogar noch deutlicher geworden. Alle Regionen der Welt sind davon betroffen.
Der Bericht bestätigt, dass ein halbes Grad mehr in der Realität grosse Unterschiede bezüglich der Konsequenzen bedeutet. Leider scheint das Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, immer unerreichbarer zu werden. Wir müssen sofort handeln, wenn wir eine Chance haben wollen, diese Schwelle wenigstens nur geringfügig zu überschreiten.
Der erste Teil des Sechsten Sachstandsberichts des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC), der am 9. August 2021 veröffentlicht wurde, enthält die aktuellsten Erkenntnisse über die Entwicklung des Klimasystems und mögliche zukünftige Entwicklungen.
Mehr als 200 Expertinnen und Experten aus über 65 Ländern nahmen daran teil und analysierten rund 14’000 wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Der zweite Teil des Berichts, der die Auswirkungen des Klimawandels bewertet und mögliche Anpassungsmassnahmen vorschlägt, wird im Februar 2022 veröffentlicht. Der dritte Teil (Reduzierung der Treibhausgase) wird im März folgen, während der zusammenfassende Bericht im September 2022 veröffentlicht wird.
Seit seiner Gründung im Jahr 1988 hat der IPCC fünf wissenschaftliche Bewertungsberichte und zahlreiche Sonderberichte veröffentlicht, darunter einen über die Folgen einer globalen Erwärmung um 1,5°C. Auf der Grundlage dieser Dokumente wird die nationale und internationale Klimapolitik entwickelt.
Was sind, verglichen mit dem Bericht von 2014, die neuen Erkenntnisse?
Der Temperaturanstieg seit der vorindustriellen Zeit ist etwas grösser als bisher angenommen. Wir haben im Zeitraum 2011-2020 etwa plus 1,1 Grad Celsius erreicht. Die neue Zahl ist auf methodische Fortschritte zurückzuführen, aber auch auf die Tatsache, dass es seit dem letzten Bericht zu einer deutlichen Erwärmung gekommen ist. Die letzten Jahre waren mit die heissesten überhaupt.
Eine wichtige neue Erkenntnis des Berichts ist, dass wir in letzter Zeit Extremereignisse erlebt haben, die ohne den Einfluss des Menschen auf das Klima höchstwahrscheinlich nicht eingetreten wären.
Der Bericht wird zu einer Zeit veröffentlicht, in der mehrere Länder mit Überschwemmungen, Hitzewellen und anderen extremen Phänomenen konfrontiert waren oder sind, in teils noch nie dagewesenem Ausmass. Was sagen uns diese Ereignisse über den Klimawandel?
Sie bestätigen alle wissenschaftlichen Vorhersagen. Wir wussten, dass um das Jahr 2020 herum die ersten anormalen oder noch nie dagewesenen Situationen entstehen würden.
Das Entmutigende daran ist, dass das passiert, was wir im «Business-as-usual-Szenario» vorausgesagt hatten, d. h. ohne neue politische Massnahmen zur Emissionssenkung. Es ist, als ob wir nichts für das Klima getan hätten. Damals dachten wir, dass dieses Szenario nicht eintreten würde, weil wir unsere Emissionen reduzieren würden. Aber wir haben uns geirrt.
Mehr
Schweiz erlebt grossflächiges Hochwasser
Werden diese gewaltigen und unvorhersehbaren Ereignisse für unsere Kinder und Enkelkinder zur neuen Normalität?
Ich würde nicht von einer neuen «Normalität» sprechen, denn die Situation wird sich noch weiter verschlechtern, wenn sich das Klima noch mehr erwärmt.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Ereignisse weiter eskalieren werden, solange die Erwärmung anhält. Wenn wir die Emissionen nicht reduzieren, wird das, was wir in zehn Jahren erleben, viel schlimmer sein als das, was wir heute sehen.
Eine Studie Ihres Instituts kommt zum Schluss, dass aussergewöhnliche Hitzewellen mit Temperaturen, die bis zu 5°C über den bisherigen Rekordwerten liegen, wie wir sie kürzlich in Lytton, Kanada, erlebt haben, in den nächsten 30 Jahren bis zu siebenmal häufiger auftreten werden. Inwieweit ist es möglich, diese sehr intensiven Ereignisse vorherzusagen?
Wir wissen mehr über die Prozesse, die einige dieser Ereignisse auslösen, und können daher die Prognosen verbessern. So wissen wir zum Beispiel, dass sehr starke Hitzewellen mit dem Austrocknen der Böden einhergehen, einem Prozess, der mehrere Wochen dauert und derzeit nur unzureichend in die Wettervorhersagen integriert ist.
Eine höhere Präzision wird es uns ermöglichen, solche Ereignisse besser zu antizipieren. Aber ich bin mir nicht sicher, ob wir dadurch Katastrophen vermeiden können. Die Erwärmung schreitet so schnell voran, dass die Anpassungsmassnahmen nur schwer Schritt halten können. Es dauert Jahre, um die Infrastrukturen anzupassen und die Häuser widerstandsfähiger gegen Hitze oder extreme Regenfälle zu machen – Zeit, die wir nicht haben.
Wir müssen uns mit dem Gedanken abfinden, dass wir nicht in der Lage sein werden, alle Ereignisse zu bewältigen, die wir jetzt erleben: Es wird negative Folgen geben, selbst wenn wir mit Anpassungsmassnahmen eingreifen.
Die einzige Möglichkeit, einen starken Anstieg der mit der globalen Erwärmung verbundenen Schäden dauerhaft zu vermeiden, ist nicht die Anpassung, sondern der Stopp der Emissionen.
Mehr
Newsletter
Als Koordinatorin des Kapitels über Extremereignisse in dem Bericht haben Sie Hunderte von Studien geprüft. Was ist Ihnen bei Ihrer Analyse am meisten aufgefallen?
Zwei Dinge: Erstens erleben wir allmählich Ereignisse, die – wie bereits erwähnt – ohne die globale Erwärmung nicht eingetreten wären. Nicht nur die Häufigkeit von Hitzewellen und starken Regenfällen nimmt zu, sondern auch Ereignisse, die wir noch nie zuvor gesehen haben.
Zweitens beobachten wir, dass mehrere Ereignisse in derselben Region gleichzeitig oder kombinierte Ereignisse in verschiedenen Regionen auftreten. Das haben wir 2018 auch in der Schweiz erlebt: Es gab eine grosse Hitzewelle, die gleichzeitig auch mehrere andere Länder in Europa, Asien und Nordamerika betraf.
Auch in diesem Sommer gab es fast gleichzeitig mehrere extreme Wetterereignisse in verschiedenen Regionen der Welt. Diese Vielzahl von Ereignissen zur gleichen Zeit und manchmal auch am gleichen Ort erschwert die Anpassung.
Die Veröffentlichung des Berichts erfolgt weniger als 100 Tage vor der internationalen Klimakonferenz in Glasgow (COP26), die von vielen Beobachterinnen und Beobachtern als entscheidend bezeichnet wird. Wie sehen Sie die Zukunft?
Die COP26 ist die letzte Chance, den Lauf der Dinge dauerhaft zu ändern und die Erderwärmung gemäss den Zielen des Pariser Abkommens erfolgreich zu bremsen. Die Pariser Vereinbarung stammt aus dem Jahr 2015, und es ist erschreckend, dass es seither keine Fortschritte gegeben hat.
Jetzt haben wir zum ersten Mal weltweit eine günstige politische Konstellation. Je mehr wir die Erwärmung begrenzen können, desto mehr können wir den Schaden begrenzen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch