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«Es ist unmöglich, alle Schweizer Gletscher zu erhalten»

Gletscher
Der Pers- und der Morteratschgletscher (im Hintergrund) in Graubünden. Seit dem 19. Jahrhundert wurde ist der Morteratsch in der Länge um etwa 3 Kilometer geschrumpft. © Keystone / Gian Ehrenzeller

Der niederländische Klimatologe Johannes Oerlemans wurde für seine jahrzehntelange Forschung über Gletscher und Eisschilde ausgezeichnet. Im Interview mit SWI swissinfo.ch spricht er über die wichtigsten Entdeckungen seiner Karriere und den Versuch, das Abschmelzen eines Gletschers in der Schweiz mit Kunstschnee zu verlangsamen.

Der in den Niederlanden ausgebildete Geophysiker Johannes «Hans» Oerlemans kam in den 1990er Jahren aus Sorge um den Anstieg des Meeresspiegels in die Schweiz, um Gletscher zu untersuchen. Im September 2022 hat der 72-jährige emeritierte Professor der Universität Utrecht zusammen mit der Dänin Dorthe Dahl-Jensen einen renommierten Wissenschaftspreis der schweizerisch-italienischen Balzan-StiftungExterner Link erhalten, für eine Arbeit über die Dynamik von Gletschern und Eisschilden.

In der Schweiz war Oerlemans Mitbegründer des Vereins GlaciersAliveExterner Link, der sich für nachhaltige Lösungen im Umgang mit Wasserressourcen einsetzt. Eines der Projekte des Vereins zielt darauf ab, den Morteratschgletscher im Kanton Graubünden, ein beliebtes Touristen- und Skigebiet, zu erhalten – durch den Einsatz von Kunstschnee.

swissinfo.ch: Sie sind in den flachen Niederlanden geboren, haben aber jahrzehntelang Gletscher studiert. Warum hat Sie Ihre Forschung in die Schweiz geführt?

Johannes Oerlemans: Zu Beginn meiner Karriere habe ich hauptsächlich Computersimulationen der Gletscherentwicklung durchgeführt. Aber es war nicht viel darüber bekannt, was auf der Oberfläche der Gletscher passiert. So kamen wir auf die Idee, eine permanente Wetterstation auf einem Gletscher zu installieren, um die Wechselwirkung zwischen Klima und Gletscher zu untersuchen.

Hans Oerlemans
Hans Oerlemans ist emeritierter Professor der Fakultät für Physik der Universität Utrecht. Hans Oerlemans

Auf Anregung von Wilfried Haeberli, einem Schweizer Freund und Kollegen, wählte ich den Morteratschgletscher. Er war bestens geeignet, weil es dort keine Lawinengefahr gibt und er leicht zugänglich ist. Vor zwanzig Jahren war das der einzige Ort in den Alpen, an dem man die Gletscherspitze sogar mit einem Rollstuhl erreichen konnte. Wir haben 1995 mit den Messungen begonnen, seither war ich hundertmal auf dem Morteratsch.

Was war die wichtigste Beobachtung in Ihrer Karriere?

Das ist eine schwierige Frage [lacht]. Ich würde sagen, die Entdeckung der Existenz eines sehr ausgeprägten Mikroklimas auf Gletschern, ermöglicht durch die Wetterstationen, die wir auf Gletschern in Island, Grönland, Österreich und der Schweiz installiert haben. In der Nähe der Oberfläche eines Gletschers herrschen andere Wetterbedingungen als in der Umgebung. Auf einem Gletscher weht immer Wind, und die Luft bewegt sich immer bergab. Das wirkt sich auf den Schmelzprozess aus.

Die Gletscher schmelzen fast überall auf der Welt. Das ist nichts Neues und in der Vergangenheit schon oft passiert. Was ist heute anders?

Die Erde ist 4,5 Milliarden Jahre alt und war die meiste Zeit davon ohne Gletscher. Perioden mit Gletschern sind relativ kurz, und wir befinden uns gerade in einer solchen. Schwankungen hat es schon immer gegeben, aber was heute anders ist, ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Gletscher zurückziehen.

2022 war für die Schweizer Gletscher ein «katastrophales» Jahr, wie die Schweizerische Akademie der Wissenschaften schreibt. Sie haben mehr als 6% ihres Volumens verloren. Reicht die Zeit noch, um sie zu retten?

Es ist unmöglich, alle Schweizer Gletscher zu erhalten. Die einzige Möglichkeit besteht darin, die CO2-Emissionen zu reduzieren und die globale Erwärmung so weit wie möglich abzuschwächen. Aber Gletscher reagieren langsam, und selbst wenn wir heute das Klima in Ordnung bringen, werden sie sich noch einige Jahrzehnte lang zurückziehen. Es ist jedoch möglich, das Abschmelzen in Einzelfällen zu verringern.

Einige Gletscher in der Schweiz wurden mit GeotextilienExterner Link abgedeckt, die das Abschmelzen wirksam verlangsamen. Sie und der Schweizer Glaziologe Felix Keller arbeiten an einer weiteren Lösung: der Konservierung des Morteratschgletschers mit Kunstschnee. Wie genau funktioniert das?

Der Morteratsch ist zu gross [etwa 15 Quadratkilometer], um mit Geotextilien bedeckt zu werden, die übrigens auch nicht sehr umweltfreundlich sind. Ausserdem handelt es sich um einen beweglichen Gletscher. Wir haben daher beschlossen, die Vorderseite des Gletschers, den Schmelzbereich, mit Kunstschnee zu schützen. Das Wasser wird nicht hineingepumpt, man braucht also keinen Strom. Wir nutzen das Schmelzwasser, das sich in einem kleinen See in grosser Höhe ansammelt und dank eines Höhenunterschieds von 200 Metern mit einem Druck von 20 bar zu uns gelangt.

Das Wasser fliesst in einem über dem Gletscher aufgehängten Rohrsystem, in dem die Köpfe der von einer Schweizer Firma entwickelten Schneelanzen verankert sind. Wir können Kunstschnee erzeugen, wenn die Temperatur unter Null sinkt. Es bilden sich spontan Eiskristalle, so dass keine chemischen Zusätze erforderlich sind.

Die Grafik unten zeigt die Lage des Gletschersees und der Schneelanzen (in blau) auf dem Morteratschgletscher. Die Linie «2040 ohne Beschneiung» zeigt, wo der Gletscher im Jahr 2040 ohne Beschneiung liegen würde, während die Linie «mit Beschneiung» die Lage des Gletschers im Jahr 2040 mit Beschneiung zeigt.

disegno del sistema di innevamento artificiale sul ghiacciaio del morteratsch
Projekt der künstlichen Beschneiung auf dem Morteratsch-Gletscher. Man beachte die von den Projektverantwortlichen für 2040 prognostizierte Gletschergrenze mit und ohne Beschneiung. ©Academia Engiadina

Warum ist der Morteratschgletscher so wichtig?

Er ist nicht wichtiger als viele andere, aber er ist – oder war zumindest früher – eine grosse Touristenattraktion. Der Gletscher ist für die lokale Wirtschaft von grosser Bedeutung. Mit der Technologie, die wir entwickelt haben, wäre es theoretisch möglich, ihn zu erhalten oder zumindest sein vollständiges Abschmelzen zu verzögern.

Was sind die grössten Herausforderungen?

Die Verfügbarkeit von Wasser. Im Sommer gibt es viel Wasser, aber es ist zu heiss, um Kunstschnee zu produzieren. Im Winter ist es zwar kalt genug, aber es gibt wenig Wasser. Man muss einen Kompromiss eingehen. Wenn es Seen gibt, die etwas höher liegen als der Gletscher, wie im Fall von Morteratsch, kann man das Schmelzwasser nutzen, das sich dort angesammelt hat.

Ein Prototyp Ihrer Technologie steht auf der Diavolezza, der Talstation der Seilbahn, die die Besucher auf den Morteratsch bringt. Wie ist der aktuelle Stand Ihres Projekts?

Wir haben die Technologie in Diavolezza zwei Winter lang getestet und festgestellt, dass das System funktioniert. Wir haben mit etwa fünfzig Meter langen Rohren experimentiert. Jetzt wollen wir Rohre von mehreren hundert Metern Länge testen.

Wie viel Kunstschnee müsste man produzieren, um wirklich effektiv zu sein?

Zwischen 5000 und 10’000 Tonnen pro Tag – eine riesige Menge. Um den ganzen Morteratschgletscher zu schützen, müsste man ein Vermögen ausgeben, über 100 Millionen Franken. Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird.

Worin liegt also der Sinn des Projekts?

Ich hoffe, dass unsere Technologie einen Durchbruch bei der Herstellung von Kunstschnee darstellt, weil sie umweltverträglicher ist als herkömmliche Schneekanonen.

Könnte sie dazu dienen, Gletscher anderswo auf der Welt zu erhalten, zum Beispiel in der Himalaya-Region, wo sie eine Wasserquelle für Hunderte von Millionen Menschen sind?

Das glaube ich nicht. Die Gletscher sind zu gross. Allerdings muss man sagen, dass der grösste Teil der Wasserressourcen im Himalaya von der Schneeschmelze abhängt, nicht von schmelzenden Gletschern. Für kleine lokale Gemeinschaften, die direkt vom Schmelzwasser abhängig sind, könnten die so genannten Eisstupas, die in der indischen Region Ladakh erfunden wurden, die beste Lösung sein.

Die Idee ist, das Schmelzwasser, das auch im Winter von den Bergen herunterkommt, zu nutzen und in bis zu 50 Meter hohen Eispyramiden zu speichern. Wenn sie im Frühsommer zu schmelzen beginnen, liefern sie Millionen von Litern Wasser, die zur Bewässerung kleiner Plantagen genutzt werden können. Es ist eine technisch sehr einfache Lösung, die die Umwelt viel weniger belastet als beispielsweise der Bau eines künstlichen Sees. Aber für grössere Populationen kommt sie natürlich nicht in Frage.

stupa di ghiaccio
Eisstupa (ein künstlich geschaffener Eiskegel) in Pontresina, Graubünden, 11. November 2021. Keystone / Gian Ehrenzeller

Was sind die Alternativen?

Da die Temperaturen steigen, wird die Menge des Schmelzwassers in den nächsten 10-20 Jahren weiter zunehmen. Dann wird sie zu schrumpfen beginnen, und in 50-100 Jahren werden die Gletscher weitgehend verschwunden sein. Das wird ein Problem sein. Die einzige Lösung ist, die globale Erwärmung zu stoppen.

Johannes ‹Hans› Oerlemans

Johannes Oerlemans wurde am 8. Oktober 1950 in Eethen in den Niederlanden geboren. Von 1989 bis 2019 war er Professor für Meteorologie an der Fakultät für Physik und Astronomie der Universität Utrecht. Seit 2019 ist er emeritierter Professor. Er ist Mitglied der Königlichen Niederländischen Akademie der Künste und Wissenschaften und der Norwegischen Wissenschaftlichen Akademie für Polarforschung.

Oerlemans hat Computermodelle zur Gletscherschmelze und zum Anstieg des Meeresspiegels entwickelt, deren Ergebnisse häufig in die Berichte des Zwischenstaatlichen Ausschusses über Klimaänderungen einfliessen. Er hat mehrere wissenschaftliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Spinoza-Preis 2001, der als «niederländischer Nobelpreis» gilt, und den mit 750’000 Franken dotierten Internationalen Balzan-Preis 2022.

In der Schweiz ist er Mitbegründer des Vereins GlaciersAliveExterner Link, dessen Ziel es ist, nachhaltige Lösungen für die Wasserwirtschaft zu finden. Zu den Projekten gehört auch die Erhaltung des Morteratschgletschers in Graubünden. Die Idee ist, das Abschmelzen zu verlangsamen, indem die Schmelzzone des Gletschers mit nachhaltig produziertem Kunstschnee bedeckt wird. Oerlemans ist auch an der Messung der Eisdicke des St. Moritzersees beteiligt, auf dem im Winter verschiedene Sportveranstaltungen stattfinden.

Editiert von Sabrina Weiss, Übertragung aus dem Italienischen von Marc Leutenegger.

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