«Es ist viel schwieriger geworden, mit der Hamas zu verhandeln»
Der Schweizer Diplomat Thomas Greminger hat im Auftrag des Bundesrats einst mit der radikal-islamischen Hamas verhandelt. Gegenüber SRF und RTS ordnet er das aktuelle Geschehen im Nahen Osten ein.
Thomas Greminger ist ein Schweizer Diplomat. Von 2004 bis 2010 leitete er die Abteilung für menschliche Sicherheit im Eidgenössischen Aussendepartement. Anschliessend war er von 2017 bis 2020 Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und führte Verhandlungen im Ukraine-Konflikt. Seit Mai 2021 ist er Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Er ist Generalstabsoffizier der Schweizer Armee (Oberstleutnant).
SRF/RTS: Sind erneute Verhandlungen mit der radikal-islamischen Hamas überhaupt möglich?
Thomas Greminger: Die Situation ist heute eine ganz andere als vor 18 Jahren. Als wir 2005/06 den Dialog mit der Hamas begannen, hatte sie gerade die Wahlen im Gazastreifen gewonnen, und es gab innerhalb der Bewegung gemässigte Kreise. Wir wollten einen langfristigen Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel erreichen – mit Existenzgarantien für Israel und der Einstellung des Raketenbeschusses.
Heute hat sich die Bewegung stark radikalisiert. Es ist viel schwieriger geworden, mit der Hamas zu verhandeln als vor rund 20 Jahren. Die Brutalität des Angriffs auf Israel ist eine grosse Hypothek für jeden weiteren Dialogversuch. Kurzfristig sind die Chancen für neue Verhandlungen mit der Hamas wohl minim, mittel- bis langfristig würde ich es aber nicht ausschliessen.
Der Bundesrat will die Hamas als Terrororganisation einstufen. Ihrer Meinung nach sollte man mit solchen Organisationen dennoch in den Dialog treten?
Ich denke, der Bundesrat hatte keine andere Wahl, als die Hamas als terroristische Organisation zu betrachten. Doch die Bewegung ist nicht homogen. Es wird wohl auch gemässigtere Kreise geben, die kooperationsbereit sind. Ausserdem denke ich, dass wir die Hamas nicht Teheran und Moskau überlassen können. Daher muss man trotzdem versuchen, wieder ins Gespräch zu kommen. Ich halte es für wichtig, den Dialog zu suchen – zumindest mit den konstruktiven Teilen dieser Organisation.
Der Nahostkonflikt schwelt seit Jahrzehnten. Entsprechend schwierig dürfte es sein, in kurzer Zeit diplomatisch etwas zu erreichen.
Ob die Bereitschaft für konstruktive Gespräche heute noch besteht, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Lage ist enorm angespannt, eine weitere Eskalation des Konflikts möglich. Kurzfristig sehe ich nur ein realistisches Szenario. Ich gehe davon aus, dass es geheime Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln oder einen humanitären Korridor gibt. Von längerfristigen Verhandlungen – etwa um einen langfristigen Waffenstillstand oder die Regelung der Palästinenserfrage – sind wir noch weit entfernt.
Geheimdienste in Europa und den USA warnen vor einer neuen Welle islamistischer Terroranschläge. In Frankreich und Belgien kam es bereits zu Angriffen, die im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt stehen könnten. Rechnen Sie mit mehr Attentaten?
Ich halte es für ein mögliches Szenario. Europa muss sich auf weitere Terroranschläge vorbereiten. Auch in der Schweiz ist Wachsamkeit angezeigt. Denn islamistische Terrororganisationen wie der IS haben den Nahostkonflikt schon immer zur Mobilisierung genutzt. Sollte die Lage zwischen Israel und der Hamas in nächster Zeit weiter eskalieren, könnte die Terrorgefahr noch grösser werden.
Israel könnte mit einer Bodenoffensive versuchen, die radikal-islamische Hamas im Gazastreifen auszulöschen. Für Sicherheitsexperte und Diplomat Thomas Greminger ist klar, dass die israelische Regierung nach dem brutalen Hamas-Angriff aus politischer Sicht keine andere Wahl gehabt hat, als die Auslöschung der Hamas als Ziel zu kommunizieren. «In der Realität wird das aber extrem schwierig. Der Gazastreifen ist sehr dicht bevölkert und es wird aus militärischer Sicht herausfordernd, dort voranzukommen», sagt Greminger.
Einen Flächenbrand in der arabischen Welt schliesst er nach Zwischenfällen an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon nicht mehr aus. Sollte Israels Gegenschlag blutig ausfallen, könne dies im arabischen Raum eine Eskalation auslösen. Es könnte Regierungen zwingen, härtere Positionen gegenüber Israel einzunehmen und so Annäherungsprozesse infrage zu stellen, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, wie Thomas Greminger weiter sagt. «Wenn die militärische Antwort Israels moderat ausfällt, könnte sich die Lage wahrscheinlich beruhigen. Ich denke, dass nur ganz wenige Akteure ein Interesse an einer Eskalation in der Region haben.» (Quelle: RTS)
Es scheint, als würden sich militärische Auseinandersetzungen derzeit häufen.
Wir haben mit dem Nahostkonflikt, dem Ukraine-Krieg sowie den Konflikten um Bergkarabach und den Sudan derzeit einige grössere Krisenherde. Es scheint mir, dass es im 21. Jahrhundert wieder eine starke Bereitschaft gibt, Konflikte militärisch zu lösen. Es ist sehr besorgniserregend, dass dies eine Art Trend dieses Jahrhunderts darstellen könnte.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch