«EU-Expertokratie reibt sich an Schweizer Diplomaten-Pragmatismus»
In den Beziehungen Schweiz - EU prallen laut dem österreichischen Europarechtsexperten Peter Hilpold zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander. Er ist aber optimistisch, dass die EU und die Schweiz trotz Streit um das Rahmenabkommen eine Lösung für ihre Beziehungen finden werden.
Der komplexe Annäherungsprozess zwischen der Schweiz und der EU scheint am Scheideweg angelangt: Ein Mehr an Zusammenarbeit, ja selbst die Fortführung der bestehenden Kooperation, soll es nur für ein Weniger an Autonomie geben. Für eine Teilhabe an den Vorteilen des Binnenmarktes verlangt die EU mehr Gleichschritt.
Damit wird die Besonderheit des Kooperationsgefüges, das sich seit der Ablehnung eines Schweizer EWR-Beitritts 1992 herausgebildet hat, erneut zur Diskussion gestellt. Dass das lose Gefüge der «Bilateralen Abkommen» nur ein Provisorium sein konnte, dem aus europäischer Sicht mehr Struktur und reziproke Verbindlichkeit verliehen werden muss, ist seit langem klar.
Erreicht werden soll dies über ein «Rahmenabkommen», ein «Institutionelles Abkommen Schweiz-EU» (InstA). Die diesbezüglichen Bemühungen sind seit Beginn dieses Jahrtausends im Gange; seit Ende 2018 liegt das InstA fertig ausformuliert vor, doch auf Schweizer Seite wurden zahlreiche Bedenken laut, die auf eine Neuverhandlung zentraler Punkte des Abkommens abstellen, beziehungsweise dieses grundsätzlich in Frage stellen.
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In dem potentiell sehr weiten, langfristig wohl allumfassenden Anwendungsbereich des InstA muss sich die Schweiz an neue EU-Rechtsentwicklungen anpassen: nicht sofort, aber dennoch mit (bindenden) Übergangsfristen, nicht automatisch in allen Details, aber mit grundsätzlicher Bindung an die Entscheidungen des paritätisch besetzten «Gemischten Ausschusses» als Streitbeilegungsgremium.
«Die EU gibt sich formal neutral, aber die Unionsrechtskultur ist nicht völlig ohne Schlagseite.»
Das neue InstA bietet der Schweiz Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Ausarbeitung neuen einschlägigen EU-Rechts an – aber keine gleichberechtigte Mitsprache wie einem Mitglied. In dieser Hinsicht würde die Position der Schweiz im Vergleich zur aktuellen Situation gestärkt: Diese ist vom «autonomen Nachvollzug» (ohne Mitwirkungsmöglichkeit) geprägt, gleichzeitig aber auch von erheblichen Spielräumen, die sich auf der praktischen Ebene in jahrelangen Umsetzungsverzögerungen einschlägigen EU-Rechts bis hin zur faktischen Nichtbeachtung äussern.
Auch unter dem InstA wird es keinen «EU-rechtlichen Zwangsvollzug» in der Schweiz geben. Das InstA bleibt insoweit völkerrechtlichen Grundsätzen treu, wie sie beispielsweise im WTO-Streitbeilegungssystem ihren Ausdruck finden: Beide Seiten können sich auch in Zukunft von ihnen nicht genehmen Entscheidungen «freikaufen», indem sie «Ausgleichsmassnahmen» der jeweils anderen Partei akzeptieren. Diese müssen aber verhältnismässig sein und ob dies der Fall ist, beurteilt ein Schiedsgericht. Für die Auslegung des anwendbaren Unionsrechts ist letztinstanzlich der EuGH zuständig.
Mit Sorge wird in der Schweiz auf die sich abzeichnende «normative Verdichtung» der vielen Grauzonen geblickt, die das verständnisvolle, freundschaftliche Zusammenwirken beider Nachbarn bislang geprägt hat.
Die EU strebt nach normativer Klärung der Wirtschaftsbeziehung. Sie gibt sich formal neutral, ganz «Expertokratie», die sie ja ist. Das Problem dabei: So neutral ist das europäische Expertenrecht natürlich nicht. Es wurde in der EU für die EU entwickelt. Die Unionsrechtskultur ist also nicht völlig ohne Schlagseite.
«Für Sonderrechte in den wechselseitigen Beziehungen ist die Akzeptanz in der EU geschwunden.»
Die Schweiz präferiert demgegenüber das wohlwollend freundschaftliche Zusammenwirken der Vergangenheit, das zuweilen – ganz pragmatisch – auch an harten Rechtsnormen vorbei einen Konsens im wechselseitigen Einvernehmen sucht. Diese Diplomatie kann den Besonderheiten der Schweizer Rechtsordnung mit ihrer direkten Demokratie und ihrem ausgeprägten Föderalismus auch in besonderem Masse und flexibel Rechnung tragen.
Der Preis dafür waren zunehmende Komplexität und Sonderrechte in den wechselseitigen Beziehungen. Für beides ist die Akzeptanz in der EU geschwunden. Mit Grossbritannien wäre die EU noch bereit gewesen, im Cameron-Reformabkommen 2016 einen solchen Sonderweg einzuschlagen. In der Post-Brexit-Zeit scheinen sich aber die Fronten zu verhärten und die eingetretene Ernüchterung sucht nach klaren Verhältnissen.
Allen Ängsten zum Trotz wird auf der Suche nach einem neuen Beziehungsgefüge eine Lösung gefunden werden. Neue Handelshemmnisse, zusätzliche Zertifizierungspflichten würden keinem der Partner nützen. Und die Lösung wird für beide formal autonomen Seiten so ausfallen, dass sie von den Regierungen nach innen gesichtswahrend verkauft werden kann.
Klar ist aber auch: Im kleinteiligen Europa werden die politisch-diplomatischen Spielräume vor dem Hintergrund eines sich stets weiter globalisierenden Wirtschaftsgeschehens immer enger.
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