EU-Länder schulden Roche und Novartis Milliarden
Infolge drakonischer Sparmassnahmen verzögern Spitäler in Spanien, Italien, Griechenland und Portugal die Begleichung von Rechnungen für Medikamente. Die Schweizer Pharmariesen Roche und Novartis erwägen, Lieferungen an säumige Schuldner zu beschränken.
«Die gegenwärtige Krise und ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen die Schuldenlast mehrerer europäischer Länder. Während Griechenland immer wieder vor dem Staatsbankrott steht, haben die Rating-Agenturen die Schulden von Ländern wie Spanien und Italien herabgestuft», erklärt die Pressesprecherin von Novartis Isabel Guerra gegenüber swissinfo.ch.
Mit einem so unsicheren Panorama «wächst die Besorgnis, dass einige Länder unsere Medikamentenlieferungen überhaupt nicht mehr bezahlen können», befürchtet sie.
«Die gegenwärtige Krise und ihre Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum beeinträchtigen die Schuldenlast mehrerer europäischer Länder. Während Griechenland immer wieder vor dem Staatsbankrott steht, haben die Rating-Agenturen die Schulden von Ländern wie Spanien und Italien herabgestuft», erklärt die Pressesprecherin von Novartis Isabel Guerra gegenüber swissinfo.ch.
Mit einem so unsicheren Panorama «wächst die Besorgnis, dass einige Länder unsere Medikamentenlieferungen überhaupt nicht mehr bezahlen können», befürchtet sie.
Der leichte Weg
Spanien und die sogenannten PIIG-Länder (Portugal, Italien, Irland und Griechenland) haben sich gegenüber Brüssel zur Verminderung ihrer Staatsschuld mittels drastischer Sparmassnahmen verpflichtet. Diese Verpflichtung beinhaltet die Vermeidung jeder nicht unerlässlichen Ausgabe.
«Wenn der öffentliche Sektor Sparmassnahmen ergreifen muss, dann besteht eine Möglichkeit darin, die Bezahlung von Rechnungen hinauszuzögern oder überhaupt nicht zu zahlen. Würde er sich dasselbe gegenüber Ärzten leisten, so liessen die politischen Reaktionen nicht auf sich warten. Zudem nimmt man an, dass die Pharma-Multis ein volles Portemonnaie haben», erklärt Professor Peter Zweifel, der auf angewandte Ökonomie im Gesundheitswesen spezialisiert ist.
Diese Sicht teilt der Vizepräsident der Schweizerischen Ärztevereinigung FMH und liberalradikale Nationalrat Ignazio Cassis: «Seit zwei oder drei Jahren ist die Lage dramatisch, denn die Schulden einiger Länder sind finanziell nicht mehr tragbar.
Viele öffentliche Spitäler und staatliche Krankenversicherungen stehen vor dem Bankrott. Und bevor sie ihren Angestellten den Lohn nicht mehr auszahlen, ziehen sie es vor, ausstehende Rechnungen ihrer Lieferanten nicht mehr zu begleichen.»
2,1 Mrd. Schulden bei Roche
Laut dem Europäischen Industrie- und Pharmaverband (EFPIA auf Englisch) schulden europäische Länder der Pharmaindustrie, zu welcher Roche und Novartis gehören, zwischen 12 – 15 Mrd. Euro (14,4 – 18,1 Mrd. Franken).
Per 31. Dezember 2011 beliefen sich die ausstehenden Zahlungen des öffentlichen Sektors Südeuropas ( Spanien, Italien, Griechenland und Portugal) auf 2,1 Mrd. Franken», bestätigt die Pressesprecherin von Roche Claudia Schmitt gegenüber swissinfo.ch.
Sie präzisiert, dass die ausstehenden Zahlungen Spaniens, Portugals und Italiens im vergangenen Jahr zunahmen, während diejenigen Griechenlands dank staatlich garantierter Null-Kupon-Anleihen abnahmen.
Novartis hat dazu gegenüber swissinfo.ch keine Zahlen genannt.
Jahrelange Wartezeit
Der spanische Dachverband Farmaindustria bestätigt, dass Spanien mit Passiven von 6,37 Mrd. Euro ( 7,7 Mrd. Franken) Ende des vergangenen Jahres und 36% mehr als im Vorjahr der grösste Schuldner der Region ist.
Die durchschnittliche Zahlungsfrist beträgt in Spanien 525 Tage und in einigen autonomen Gemeinschaften sogar über 800 Tage. Claudia Schmitt von Roche bestätigt diese Angaben:
«In Spanien gibt es Spitäler, die seit drei Jahren keine Rechnung beglichen haben. Roche ist daran, ihre Geschäftspolitik gegenüber Spitälern zu überprüfen, die die schlechteste Zahlungsmoral haben. So könnte für jedes Spital eine Kreditgrenze festgesetzt werden und Medikamente würden nur geliefert, falls diese Grenze nicht überschritten ist.»
Isabel Guerra bestätigt, dass Novartis ebenfalls eine Änderung ihrer Geschäftspolitik vorsieht: «Mit der Verschlechterung der Wirtschaftslage und der Kreditbedingungen in diesen Ländern hat sich die Zahlungsfrist für offene Rechnungen erhöht. Dies wird uns wahrscheinlich dazu zwingen, unsere zukünftige Politik der Schuldeneintreibung zu überdenken.»
Die Pressesprecherin fügt hinzu, dass sich Novartis immer mehr auf Cash-Zahlungen beschränke. Zusätzlich würden Krisenpläne entwickelt und zur Schuldeneintreibung immer öfter Factoring und Versicherungspolicen verwendet.
Das Dilemma
«Pharamakonzerne sind Privatfirmen. In einer liberalen und demokratischen Gesellschaft gehören das Privateigentum und die Privatinitiative zu den grundlegenden Werten», betont Ignazio Cassis. Nur die Konzerne selbst könnten die Vor- und Nachteile von Lieferungsbeschränkungen abschätzen.
«Einem Unternehmen liegt viel daran, gegenüber Kunden und Bevölkerung ein gutes Image zu haben, um sich nach dem Ende der Krise seinen Marktanteil zu sichern. Deshalb liegt es in seinem Interessen, Ad-hoc-Strategien anzuwenden, wie zum Beispiel vorübergehende Preisermässigungen.»
Peter Zweifel stimmt mit ihm überein, ist aber der Auffassung, dass den Pharmakonzernen kaum eine andere Wahl bleibe: «Die Regierungen würden sie aus dem Markt kippen und ihnen vorwerfen, die Gesundheit von Millionen von Bürgern zu gefährden.»
Spanien: Die Lobby der internationalen Pharmaindustrie, die unter anderem die Interessen von Roche, Novartis, Pfizer und AstraZeneca vertritt, verhandelt gegenwärtig mit der spanischen Regierung über die Emission staatlich garantierter Wertpapiere.
Die Pharmaindustrie beabsichtigt, auf diese Weise bis zu 5,83 Milliarden Euro ( 7,04 Mrd. Franken) zur Deckung offener Rechnungen der öffentlichen Spitäler zurückerstattet zu bekommen.
Griechenland: Im vergangenen Sommer gab Athen zur Begleichung der öffentlichen Schulden gegenüber der internationalen Pharmaindustrie sogenannte Null-Kupon-Anleihen heraus. Zu ihrer Erwerbung musste die Pharmaindustrie ausstehende Rechnungen mit einem Rabatt von 25 – 40% an den öffentlichen Sektor verkaufen.
Spanien: In den vergangenen 12 Monaten hat Spanien drei Dekrete zur Preisermässigung von Medikamenten erlassen. In der Folge reduzierten sich die Abrechnungen der Pharmaindustrie um 20%.
Um die Lieferung von Medikamenten an Spitäler und Patienten zu garantieren, verhandelt Roche mit den wichtigsten Spitälern des «Krisen-Europa», um Lösungen für ausstehende Zahlungen zu finden.
Griechenland: Mit den öffentlichen Spitälern hat Roche ein Programm ausgearbeitet, dass unabhängig von Zahlungen die Lieferung lebenswichtiger Medikamente garantiert. Dasselbe Kriterium gilt für Aidspatienten.
Staatsschuld im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP): Portugal: 110%; Griechenland: 160%; Irland: 105%, Italien: 120%; Spanien:66%.
In diesen Ländern hatten die staatlichen Sparpakete eine verminderte Schuldenbegleichung öffentlicher Spitäler zur Folge.
Spanien ist hier mit Ausständen von 6,369 Milliarden Euro per 31.Dezember 2011 das wichtigste Schuldnerland für Medikamente.
Laut dem Dachverband Farmaindustria gehören Andalusien (1,524 Milliarden Euro), Valencia (1,292 Milliarden Euro) und Madrid ( 763 Millionen Euro) zu den autonomen Gemeinschaften mit den grössten Problemen.
Die grössten Zeitrückstände verzeichnen Valencia mit durchschnittlich 884 Tagen, die Balearen mit 848 Tagen sowie Kastilien und Leon mit 816 Tagen.
(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)
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