Europas sorglose Jahre sind vorbei
Die Europäische Union stehe vor einer ähnlichen Zerreissprobe wie die Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts, schreibt ein schweizerisch-deutscher Buchautor. Um den Zerfall zu verhindern, müsse die EU mehr Schweiz wagen.
swissinfo.ch: Inwiefern sind die schönen Jahre Europas vorbei?
Steffen Klatt: Europa hat nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wende einen unvergleichlichen Aufbruch erlebt in Richtung Demokratie, Freiheit und Wohlstand. Gleichzeitig forderte während zweieinhalb Jahrzehnten niemand den Kontinent von aussen heraus. Europa hatte nur selbstgemachte Probleme.
Steffen Klatt wurde 1966 in der DDR geboren. Er studierte Geschichte, Philosophie und Literatur in Berlin, Basel und Odense/Dänemark sowie Politische Ökonomie in Leipzig. In den 1990er-Jahren zog er in die Schweiz und wurde Journalist. Für das St. Galler Tagblatt war er unter anderem als Korrespondent bei der EU und der Nato in Brüssel, als Korrespondent in der Westschweiz sowie als Redaktor der Inlandredaktion tätig. Seit 2005 ist er Chef der Schweizer Nachrichtenagentur Café Europe. Im Verlag Zytglogge ist soeben sein neues BuchExterner Link erschienen: «Mehr Schweiz wagen – mehr Europa tun. Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Abbruch».
Das ist jetzt vorbei. Seit dem russischen Einmarsch auf der Krim 2014 und spätestens mit der Corona-Krise ab 2020. Die Jahre des langsamen Wachstums und der unbegrenzten Sicherheit Europas werden so schnell nicht wiederkommen.
Woher droht Gefahr?
Es gibt erstmals seit dem Kalten Krieg wieder eine Systemkonkurrenz. Die wichtigste Gefahr für Gesamteuropa, und da gehört die Schweiz dazu, sind die autoritären Mächte.
China baut ein Netzwerk zu autoritären Regierungen aus, auch in Europa. Solche autoritären Regierungen sehen Sie in Ungarn und in Polen, aber auch in Italien und möglicherweise bald in Frankreich.
Die autoritäre Herrschaft ist in Europa angekommen. Da hat die EU kaum Mittel, das zu verhindern.
«Europa hat alles, was es für potenzielle Aggressoren interessant macht», schreiben Sie. Wer könnte Europa militärisch angreifen wollen, Russland, afrikanische Staaten…?
Europa lebt mit zwei Nachbarn, die eine revanchistische Politik betreiben: Russland, das die einstige Sowjetunion wieder aufbauen möchte, und die Türkei, die einen Teil der Macht des einstigen osmanischen Reiches zurückwünscht.
Die Türkei versucht schon seit Jahrzehnten, auf dem Balkan Einfluss zu nehmen. Erdogan lässt in der Ägäis provozieren und riskiert dort einen Krieg. Und ja, Sie haben recht, es kann durchaus sein, dass Menschen, die heute aus Afrika nach Europa fliehen, eines Tages mit Waffen kommen.
Europa ist interessant, weil es reich ist und keine klaren Grenzen hat, es ist nicht wie Amerika durch zwei Ozeane geschützt. Und es ist inadäquat bewaffnet.
Die europäischen Nato-Länder investieren zusammen mehr Geld ins Militär als Russland.
Wenn ein Staat mit der atomaren Vernichtung eines ganzen Kontinents drohen kann – und das auch offen tut – dann sind konventionelle Waffen kein ausreichender Schutz. In russischen Medien wurde damit geprahlt, man könnte mit einer Unterwasser-Atombombe die britischen Inseln auf einen Schlag vernichten.
Europa hat dem nichts entgegenzusetzen ausser der Hoffnung, Russland möge auf den Einsatz solcher Waffen verzichten oder die USA wüssten es zu verhindern.
Wenn man Ihr Buch liest, erhält man den Eindruck, die EU befinde sich nicht nur geopolitisch, sondern auch wirtschaftlich in einer prekären Situation.
Ja, die wirtschaftliche Herausforderung ist sogar fast noch wichtiger. Europa hat seit dem Ende des Kalten Krieges keinen Tritt gefasst.
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Europa ist zwar ein sehr innovativer Kontinent, aber die wirtschaftliche Dominanz geht von Amerika aus. Obwohl viele der Elemente, mit denen Amerika den Weltmarkt dominiert, in Europa entwickelt wurden, wie das Internet am CERN beispielsweise.
EU-weit hat sich aber in den letzten 20 Jahren das Pro-Kopf-BIP nahezu verdoppelt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die europäische Wirtschaft ihre Produktion nach Osteuropa sowie Asien ausgelagert und sich freiwillig der finanziellen und digitalen Dominanz Amerikas unterstellt. Sie hat sich von ihrer amerikanischen und chinesischen Konkurrenz die Butter vom Brot nehmen lassen. Und das ist auch heute noch der Fall.
Dass es uns noch relativ gut geht, auch besser als in den 1990er-Jahren, ändert nichts an der Tatsache, dass die wirtschaftlich relevanten Entscheidungen nicht in Europa getroffen werden, sondern in den USA und China. Und das ist nicht gut für einen Kontinent, der auf Dauer seinen eigenen Wohlstand sichern möchte.
Und dann gibt es noch einen weiteren Aspekt.
Ja?
30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war Westeuropa ein wirtschaftlich starker Halbkontinent, Westdeutschland hatte gerade ein Wirtschaftswunder hinter sich. 30 Jahre nach der Wende hingegen ist kein Wirtschaftswunder in Osteuropa zu sehen.
Wenn ein halber Kontinent nicht mitgenommen wird, dann belastet das den Zusammenhalt des Kontinents.
Sie meinen, das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU führt zu einer Spaltung?
Ja, diese Spaltung belastet Europa stark. Die Osteuropäer:innen sind mit der Erwartung in die Wende gegangen, dass mit der Freiheit auch der Wohlstand kommt. Eine ganze Generation – jene meiner Eltern – wurde enttäuscht.
Auch meine Generation hat ihr Glück meistens im Westen gefunden. Das belastet die Zurückgebliebenen sehr stark. Das erklärt, warum in Teilen Ostdeutschlands, wo es vielen Menschen finanziell gar nicht so schlecht geht, eine nationalistische Partei wie die AfD einen Wähler:innenanteil von 30 Prozent hat. Oder warum sich eine nationalkonservative Partei in Polen an der Macht halten und ein Viktor Orban seine autoritäre Herrschaft in Ungarn ausbauen kann.
Es geht nicht allein um die absoluten Zahlen wie die Verdoppelung des Bruttoinlandprodukts, sondern es geht darum, wie die Leute die Situation wahrnehmen. Man kann nicht auf Dauer mit dem Gefühl leben, man sei Europäer:in zweiter Klasse. Und das tun viele Osteuropäer:innen.
Sie sagen, die Schweiz sei Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem gleichen Problem gestanden wie Europa heute. Wie meinen Sie das?
Die Schweiz vor bald 170 Jahren war ein Gebilde, das aus vielen kleinen Gesellschaften bestand, die am Rand eines Bürgerkrieges standen und dann tatsächlich in eine kurze militärische Auseinandersetzung gerieten, den Sonderbundskrieg.
Das Land stand vor der Herausforderung, sprachlich, kulturell, konfessionell und wirtschaftlich völlig unterschiedliche Gesellschaften zusammenzubringen. Gleichzeitig waren rund um die Schweiz drei bis vier Grossmächte aktiv, die den damaligen Aufbruch der Schweiz gern verhindert hätten.
Wie bringt man so viele Kulturen und Gesellschaften in einen Staat zusammen, der dann auch noch lange und gut hält? Da hat die Schweiz ein paar Erfahrungen gemacht, die Europa sich anschauen sollte.
Nämlich?
Man kann drei Ebenen ausmachen. Erstens: Der Wille zu einem Aufbruch. Der Schweizer Bundesstaat ist das Ergebnis eines freisinnig-liberalen Aufbruchs, entsprechend hat der Freisinn das Land jahrzehntelang politisch dominiert.
Aber zweitens war dieser Freisinn klug genug, am Föderalismus festzuhalten. Der Bundesstaat war zwar progressiv, aber in ihren Kantonen konnten die Konservativen, die im Sonderbundskrieg unterlegen waren, Herr im Hause bleiben.
Drittens wurde schrittweise die direkte Demokratie eingeführt, womit man die Minderheiten auch kantonsübergreifend miteinbeziehen konnte.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU auf Sie oder die Schweiz hören wird. Sie sagen selbst, das real existierende Europa sei noch nicht so weit. Wie also wird der Kontinent in zwanzig Jahren aussehen?
Europa steht vor der Wahl zwischen einem Aufbruch oder einem Abbruch. Entweder geht es in Richtung eines demokratischen Aufbruchs, die Bürger:innen hätten also mehr zu sagen, oder es geht in Richtung eines demokratischen Abbruchs, dann werden die Erdogans, Orbans, Melonis und Le Pens zur Norm.
Ihre Lösungsvorschläge nach Schweizer Vorbild zielen auf die innere Einigkeit, sollen also das Auseinanderfallen der EU verhindern. Wie sich Europa gegen äussere Feinde behaupten könnte, habe ich im Buch nicht gelesen.
Ein Land ist dann stark, wenn der Zusammenhalt stark ist. Europa wird nicht in erster Linie zerfallen, weil Russland oder die Türkei stärker werden und Europa angreifen, sondern Europa ist dann gefährdet, wenn es innerlich nicht einig ist. Und das ist heute eigentlich schon der Fall.
Die innere Einigkeit ist also viel wichtiger als die militärische Stärke. Um in dieser Welt bestehen zu können, braucht Europa nicht mehr Waffen, sondern ein funktionierendes inneres Gemeinwesen. Dann muss es auch keine Angst haben vor China und erst recht nicht vor Russland oder der Türkei. China ist militärisch noch eine asiatische Regionalmacht, Russland und die Türkei sind im Verhältnis zu einem geeinten Europa zu schwach – von der nuklearen Bedrohung abgesehen.
Die fehlende innere Einigkeit ist die grosse Herausforderung für die EU. Und da kann Europa sehr wohl etwas von der Schweiz lernen.
Am 29. November nimmt Steffen Klatt an einer Podiumsdiskussion zum Thema «Die Schweiz und Europa – wie weiter?» im Literaturhaus Basel teil.
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