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Corona-Pandemie legt Schwachstelle der Schweiz offen

Frau blickt durch Mikroskop
Die Schweiz ist stark auf ausländische Talente angewiesen, um Qualifikationslücken zu schliessen. Mareen Fischinger

Die Schweiz ist für Arbeitsuchende aus dem Ausland noch immer attraktiv. Doch die Kontigentierung der Aufenthaltsbewilligungen machen vielen Unternehmen zu schaffen. Bringt die Pandemie die Wende?

Im April geriet die Schweizer Biotechfirma Lonza unter Druck, weil es in ihrer neuen Impfstoff-Produktionsanlage im Wallis zu Verzögerungen kam. Ein Grund dafür waren Probleme bei der Anstellung von Fachkräften.

Mehrere Medien berichteten, dass die Obergrenze für ausländische Arbeitskräfte, die im Wallis fürs Jahr 2021 bei 42 Aufenthaltsgenehmigungen liegt, die Rekrutierung erschwert habe. Ein Lonza-Sprecher wollte dies zwar nicht bestätigen, räumte aber ein, dass es aus vielen Gründen eine Herausforderung gewesen sei, Mitarbeitende mit den richtigen Qualifikationen zu finden.

Politikerinnen und Politiker argumentieren, die Schwierigkeiten bei Lonza seien ein weiteres Zeichen dafür, dass die Schweiz wieder offener sein müsse für hochqualifizierte Arbeitskräfte von ausserhalb Europas. Nur so könne die Schweiz im internationalen Wettbewerb um Fachleute konkurrenzfähig bleiben.

«Die Krise bei Lonza hat gezeigt, wie ernst das Problem wirklich ist», sagt der ehemalige Parlamentarier Fathi Derder gegenüber swissinfo.ch. Vorschläge zur Lockerung der Beschränkungen für Ausländerinnen und Ausländer, die seit Jahren diskutiert werden, erhalten mit der Covid-19-Pandemie mehr Unterstützung.

Am 4. Mai nahm der Nationalrat eine von Derder eingebrachte Motion an. Diese fordert einen flexibleren Mechanismus bei den Kontingenten aus nicht EU/Europäische Freihandelsassoziation-Staaten – speziell für Hightech-Branchen mit hohem Fachkräftemangel.

Einzelne Kantone stark betroffen

Wegen des Personenfreizügigkeits-Abkommens mit der EU gibt es für Arbeitnehmende aus EU-Ländern und der Europäischen Freihandelszone (EFTA) keine Kontingente. Anders verhält es sich bei Staatsangehörigen aus so genannten Drittstaaten wie den USA, Indien und China. Nach dem Brexit wurden für britische Staatsangehörige separate Quoten festgelegt.

Die Quoten für Kurzaufenthalts-Bewilligungen (Ausweis L) und Aufenthaltsbewilligungen (Ausweis B) für diese Staaten (mit Ausnahme Grossbritanniens) bewegen sich in einer Grössenordnung von 6500 bis 8500 pro Jahr.

Diese werden laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) auf der Grundlage von Konsultationen mit den Kantonen und der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung im Land festgelegt. Ein Teil wird an die Kantone verteilt, basierend auf dem erwarteten Bedarf, den Rest behält der Bund als «Reserve».

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Julia Stutzer ist Immigrationsspezialistin bei der Beratungsfirma Deloitte in Zürich. Ihr 20-köpfiges Team beantragt im Auftrag von Kunden – viele davon sind multinationale Unternehmen – in der Schweiz rund 4000 Aufenthaltsbewilligungen pro Jahr.

Nur wenige würden abgelehnt, sagt Stutzer. Das Problem sei nicht das Gesamtkontingent – dies wurde 2017 erhöht –, sondern die Genehmigungen für einzelne Kantone, sagt sie.

Gemäss Alexa Mossaz, Spezialistin für Einwanderungsrecht bei Legal Expat Switzerland, ist die Anzahl der verfügbaren B-Bewilligungen in Kantonen wie Genf, Waadt oder Zürich, wo die Nachfrage aufgrund vieler global tätiger Unternehmen gross ist, nicht ausreichend.

Stutzer unterstreicht diese Aussage: Diese Kantone würden in der Regel bereits Mitte Jahr ihr Kontingent erreichen und müssten deshalb die Bundesreserve in Anspruch nehmen.

Lohnt sich der Aufwand?

Mehreren Quellen zufolge zögern Unternehmen jedoch, sich zu stark gegen das bestehende System zu wehren, was auch mit politischen Empfindlichkeiten bei Einwanderungsfragen zu tun hat. Die Schweiz stimmte 2014 mit knapper Mehrheit einem Plan zur Eindämmung der Einwanderung zu, der die Einführung von Quoten zur Folge hatte.

Meist ärgern sich Firmen-Manager hinter verschlossenen Türen. Doch immer mal wieder flammt öffentlich Kritik auf. Roche-Boss Severin Schwan wehrte sich 2016 in einem InterviewExterner Link: «Ich möchte mit Nachdruck betonen, dass Roche massiv auf hoch qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen ist, auch aus Drittstaaten», sagte Schwan dem Tages-Anzeiger. In der Forschungsabteilung stamme rund die Hälfte der Mitarbeitenden aus dem Ausland.

Inzwischen belegen Untersuchungen solche Aussagen. So veröffentlichten Deloitte und die Schweizerisch-Amerikanische Handelskammer 2020 eine Studie, die zum Schluss kommt, dass die Schweiz für multinationale Unternehmen zunehmend an Attraktivität verliert, weil es für sie schwierig geworden ist, junge, ausländische Talente in die Schweiz zu holen.

Dennoch sind grosse Unternehmen, die wichtige Umsatzbringer für die Kantone sind, noch immer in einer guten Position. Ein Sprecher von Novartis sagte im Mai gegenüber swissinfo.ch, dass das Unternehmen «genügend Bewilligungen» erhalte, um seinen Bedarf zu decken.

Laut Expertinnen und Experten bewerben sich aber viele Firmen nur dann, wenn sie sicher sind, dass Kandidierende eine Bewilligung erhalten, und verlieren so andere potenzielle Arbeitskräfte.

Drittstaat-Angehörige sollen laut dem Bundesrat nur dann eingestellt werden, wenn sie «unbedingt benötigt werden». Unternehmen müssen strenge Verfahren befolgen und dabei beweisen, dass niemand aus der Schweiz oder aus Europa die Stelle besetzen kann.

«Eine Bewilligung für eine Kandidatin oder einen Kandidaten von ausserhalb der EU zu erhalten, ist ein langwieriger Prozess», sagt Nicolai Mikkelsen, Geschäftsführer der Zürcher Zweigstelle der Personalfirma Michael Page.

«Wenn wir mit Headhuntern arbeiten, ziehen diese es vor, keine Personen von ausserhalb der EU in Betracht zu ziehen, weil sie wissen, dass das zu Schwierigkeiten führt», fügt Mikkelsen hinzu. Einige Firmen würden sogar davor zurückschrecken, einen internen Versetzungsprozess zu starten, weil sie befürchten, dass er nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann.

Der Kampf um Talente

Wie Stutzer von Deloitte erklärt, seien die Genehmigungsanforderungen auf ältere, erfahrene Arbeitskräfte ausgerichtet. Jedoch benötigten viele Unternehmen jüngere, spezialisierte Personen, die lokal nur schwer zu finden seien.

Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist zwar aufgrund der Corona-Pandemie gestiegen. Gemäss einer Studie von Spring Professional hatte sie aber wenig Einfluss auf Engpässe in Bereichen wie Ingenieurwesen, Informatik und Medizin. Vielmehr «verschärfte» die Pandemie dort den Fachkräftemangel.

Paradoxerweise haben Personen, an denen die Schweiz am meisten Interesse hat, die grössten Schwierigkeiten, Bewilligungen zu erhalten. Zum Beispiel junge Absolventinnen und Absolventen von Schweizer Universitäten und Unternehmen in Bereichen wie Ingenieurwesen, Biotechnologie und Informatik.

«Selbst in Bereichen wie IT und Software-Entwicklung, wo ein Kampf um Talente tobt, können Bewilligungen abgelehnt werden», sagt Franziska Schmid von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH).

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Ein Gleichgewicht finden

Die Situation ist besonders herausfordernd für Startups, gerade in den Bereichen Biotech oder Software. Michael Altorfer, der die Swiss Biotech Association leitet, sagt gegenüber swissinfo.ch, dass alle Firmen um einen sehr kleinen Pool von Leuten werben.

Er findet, dass die Schweiz die Idee eines Unternehmer- oder Startup-Visums untersuchen sollte – etwas, das es in Ländern wie den USA, Frankreich, Kanada und Israel bereits gibt.

Mossaz von Legal Expat Switzerland sagt, dass Startups, die Nicht-EU-Kandidierende einstellen wollen, ihre wirtschaftliche Bedeutung für den Kanton nachweisen müssen. «Ein kleines Startup, das keine Einnahmen generiert, wird an diesem Prozess wahrscheinlich scheitern. Das Startup muss Einnahmen generieren und in den nächsten drei Jahren ein starkes Potenzial für die Schweizer Wirtschaft aufweisen, um die Bewilligungskriterien zu erfüllen», sagt Mossaz.

Die Sorge um Zugang zu qualifizierten Fachkräften für die Impfstoffproduktion beschäftigt die Regierung. Am 19. Mai erklärte Innenminister Alain Berset, dass der Bundesrat bei der Anstellung von 75 Personen geholfen habe, damit Lücken bei Lonza gefüllt werden konnten. Das reicht aber noch nicht: In Visp werden weitere Arbeitskräfte benötigt, da der Konzern plant, die Schweizer Produktionskapazität für den Moderna-Impfstoff im nächsten Jahr zu verdoppeln.

Unklar ist jedoch, wie eine langfristige Lösung aussehen soll. Politiker Derder findet, dass Quoten abgeschafft werden sollten. Kritiker befürchten aber, dass dies zu Lohndumping, Bevölkerungsdruck und Kampf um Arbeitsplätze führen würde.

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In ihrer Studie von 2020 schlagen Deloitte und die Schweizerisch-Amerikanische Handelskammer moderatere Änderungen vor. Zum Beispiel «Innovationsgenehmigungen» für ausländische Studierende in technischen Bereichen. Sie empfehlen auch ein Zertifizierungssystem für «vertrauenswürdige Unternehmen», um Talenten den Wechsel innerhalb einer Firma zu erleichtern. Dies ist etwa in den Niederlanden bereits eingeführt worden.

Das Schweizer System sei zuverlässig und funktioniere in vielerlei Hinsicht, sagt Stutzer von Deloitte. «Wir glauben nicht, dass das gesamte Einwanderungssystem über den Haufen geworfen werden muss. Aber es braucht mehr Digitalisierung und Flexibilität bei Quoten und Prozessen für diese kleine Gruppe von Menschen, die dringend benötigtes Knowhow in die Schweiz bringen.»

Für Derder ist das Ja des Nationalrats zu seiner Motion ein wichtiger Schritt nach vorne. Der Antrag muss jetzt noch den Ständerat passieren. Im vergangenen März beschloss der Bundesrat zudem, einen Bericht erstellen zu lassen, der die Einwanderungsregeln aufzeigen soll und wie diese optimiert werden können. Insgesamt haben solche Vorschläge während der letzten Jahre mehr Unterstützung erhalten.

«Um weltweit führend zu sein, muss man kämpfen. Wir sind ein reiches Land, aber vielleicht werden wir das nicht immer sein», sagt Derder. «Wir sollten Talenten aus dem Ausland den roten Teppich ausrollen. Wir sollten sagen: Geht nicht ins Silicon Valley oder nach Israel – kommt zu uns in die Schweiz.»

(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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