Bern wird Velostadt – und das ist kompliziert
In der Stadt Bern hat die Zahl der Fahrradfahrer in den letzten Jahren explosionsartig zugenommen. Es ist ein Trend, der von den Behörden aktiv gefördert wird. Das gefällt aber nicht allen.
Bern ist zu Stosszeiten verstopft mit Autos, und in den Bussen hat jeder Glück, der einen Sitzplatz ergattern kann. Viele Berner oder Auswärtige, die in Bern arbeiten, steigen deshalb aufs Velo um. Die Stadtbehörden fördern den Trend. Ende Juni gab Gemeinderätin Ursula Wyss (SP) den Startschuss zum Veloverleihsystem PubliBike, das zur Postauto AG gehört.
Über Nacht wurden 70 PubliBike-Stationen in der ganzen Stadt aufgestellt. An jeder Station standen ein Dutzend schicke, mattschwarze Fahrräder bereit – rund die Hälfte davon waren E-Bikes, die anderen normal angetriebene. Und das ist nur der Anfang. Der Plan sei, sagt Michael Liebi von der Verkehrsabteilung der Stadt, das Velo-Netz in Bern bis 2020 auf 2400 Fahrräder aufzustocken. Die fünftgrösste Stadt der Schweiz, wo ein ÖV-Anschluss nie mehr als 300 Meter entfernt ist, soll so bald das grösste Bike-Sharing-System des Landes bieten.
Doch braucht es das wirklich? «Ja», sagt Liebis Chefin Ursula Wyss, die 2012 das Verkehrsdossier der Stadt übernommen hat. Für sie ist das Velo-Verleihsystem Teil eines grösseren Projekts zur Verbesserung der Lebensqualität im öffentlichen Raum. Ihre Gedanken hierzu hat sie im vergangenen Juni in einem Positionspapier skizziert:
«Der öffentliche Raum ist heute – mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten – ein wesentlicher Bestandteil einer lebendigen, sozialen und ökologischen Stadt. In einer demokratischen Gesellschaft besteht ein selbstverständliches Recht aller auf öffentlichen Raum. (…) Je mehr Menschen im dichten städtischen Raum zusammenkommen, umso wichtiger wird die Qualität des öffentlichen Raums.»
Bernerinnen und Berner bemerken in diesem Sommer, dass sich etwas getan hat: Zuvor leere Bereiche sind jetzt mit altersfreundlichen Bänken und Tischfussballkästen ausgestattet, einige Strassen sind mehrmals wöchentlich für den Verkehr gesperrt. Es sind Bemühungen, um Räume zu schaffen, in denen das Verweilen angenehmer ist, wie Wyss es in ihrem Manifest formuliert hat.
Fahrräder sind ein wichtiger Bestandteil davon. Wyss möchte den Anteil der Velofahrten am Berner Gesamtverkehr bis 2030 von 15 auf 20 Prozent erhöhen. Die Entwicklung in den letzten Jahren – Die Zahl der Velofahrten nahm zwischen 2014 und 2017 um 35 Prozent zu – zeigt, dass ihr Plan aufgehen könnte.
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Eine «Velo-Kultur» etablieren
Liebi sagt, dass nordeuropäische Städte, vor allem solche in Deutschland, den Niederlanden und in Dänemark, Vorbild für die neue Praxis in Bern seien. In Kopenhagen, dem globalen Velo-Mekka, werden inzwischen 40 Prozent aller Fahrten mit Velos gemacht.
Es gehe einerseits darum, eine gute Infrastruktur aufzubauen, sagt Liebi. Radfahrer müssen sich sicher fühlen, etwa durch klare Trennung von Rad- und Autospuren. Andererseits müsse sich mit der Zeit auch eine Velo-Kultur etablieren, und Kinder müssten früh mit den Zweirädern vertraut gemacht werden.
Diese Ziele stehen auch auf der Agenda von Pro Velo Bern, dem lokalen Ableger des Vereins, der sich für alle das Velo betreffenden Belange einsetzt. Die Gruppe bietet Einführungskurse für Personen jeden Alters und jedes sozialen Hintergrunds, veranstaltet Velobörsen und sorgt sich ums Lobbying bei den Behörden, damit die Bedingungen für Radfahrer auf politischer Ebene verbessert werden.
Rebecca Müller, Geschäftsführerin von Pro Velo Bern, ist mit dem Fortschritt zufrieden. Sie erklärt sich die aktuelle Renaissance des Radfahrens als Ergebnis von mehreren, sich überschneidenden Trends: Zum einen seien Menschen heute umweltbewusster und würden stärker auf ihre Gesundheit achten, zum anderen sei es trendy und cool, mit dem Velo unterwegs zu sein.
Doch der Trend müsse weitergehen, sagt Müller. Hohe Priorität habe die bevorstehende Abstimmung am 23. September. Dann kommt die Initiative vors Schweizer Stimmvolk, die Velo-, Fuss- und Wanderwege in der Bundesverfassung verankern will. Der Passus soll das Velowegnetz stärken und mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer bringen, sagen die Befürworter (siehe Infobox).
Diebstahl oder Opposition?
Aber nicht jeder ist glücklich mit der Entwicklung. Obwohl vier Fünftel der Teilnehmer in einer kürzlich durchgeführten Onlineumfrage von swissinfo.ch sagten, dass solche Bike-Sharing-Programme eine gute Innovation und keine Geldverschwendung seien, wurden Bedenken geäussert.
Einige Teilnehmer sorgten sich um die «kommerzielle Aneignung des knappen öffentlichen Raums». Andere fürchten sich vor Eingriffen in ihre Privatsphäre und nennen als Beispiel den umstrittenen Veloverleiher oBike in Zürich. Das Start-Up aus Singapur wird nicht nur rundherum für die schlechte Qualität der Bikes kritisiert, sondern auch verdächtigt, es auf die Daten der Nutzer abgesehen zu haben.
Noch bezeichnender war, dass in Bern nur wenige Wochen nach der Einführung von PubliBike das App-basierte elektronische Schliess- und Tracking-System mit einem ziemlich einfachen Kniff gehackt wurde. Die Hälfte der Flotte – 350 Fahrräder – wurden entwendet. In der Folge stellte PubliBike sowohl in Bern, als auch an seinen anderen Standorten in Zürich und Freiburg ihren Veloverleihbetrieb ein. Die Schlösser würden nun so rasch als möglich angepasst, teilte PubliBike mit.
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War das nur gewöhnlicher Vandalismus und Diebstahl oder signalisieren solche Aktionen eine Opposition gegen Fahrrad-Sharing und gegen die Wyss’sche Politik des öffentlichen Raums?
«Das Phänomen kann dazu genutzt werden, sich Gedanken zu machen, was öffentliche Güter und Räume sind und wie wir mit ihnen umgehen», sagte die Soziologin Barbara Emmenegger kürzlich dem «Der Bund». «Aber ich finde es auch falsch, wenn nun seitens der Stadt und von Postauto vorschnell der moralische Zeigefinger erhoben wird. Aus meiner Sicht täte ein Schritt zurück gut, um die Situation genauer zu analysieren», sagt Emmeneggger, die im Auftrag von Städten soziale Räume unter die Lupe nimmt. Es sei wichtig, sicherzustellen, dass Bürger aus allen sozialen Schichten daran beteiligt werden, wie ihre Räume Gestalt annehmen.
Die Debatte um den öffentlichen Raum und die Fahrräder ist und bleibt hochpolitisch. Und das weiss auch die «Berner Zeitung», die im vergangenen Juni ein Porträt über Ursula Wyss mit dem bezeichnenden Titel «Das Powerplay der Ursula Wyss» publizierte.
«Natürlich», so schrieb Autor Jürg Steiner, «funktionieren bei der Bespielung öffentlicher Räume auch machtpsychologische Mechanismen. Wenn Menschen Räume in Beschlag nehmen und gestalten, identifizieren sie sich mit ihnen. Sowie mit der Regierung und ihrer Verwaltung, die das ermöglichen.»
Die einzige Partei, die sich gegen die Fahrradinitiative stemmt, ist die SVP. Die rechtskonservative Partei, die in der Stadtberner Politlandschaft eher marginalisiert wird, erklärte, dass die Initiative unnötig sei, dass schon genügend Menschen das Fahrrad benützten, und dies sowieso nicht Sache der Regierung sei.
Hat die SVP mit ihrer Haltung recht? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt es wohl nicht. Und die Meinung der meisten Menschen hierzu wird wohl eher vom politischen Instinkt als von einer rationalen Einschätzung geformt. Zumindest in einem hat die SVP recht: Der Radverkehr wird weiter zunehmen, aber viele Leute wollen nicht dazu angehalten werden, aufs Rad zu steigen.
Die Velo-Initiative
Am 23. September 2018 entscheiden Volk und Stände über den Bundesbeschluss über die Velowege sowie die Fuss- und WanderwegeExterner Link.
Die Initiative soll den Bund dazu bringen, Velowege zu fördern – so wie er es bei Wanderwegen bereits tut. Die Förderung des Fahrradnetzes soll zu einer Reduktion des Autoverkehrs führen und Unfälle vermeiden.
Der Vorschlag ist ein Gegenentwurf der Regierung als Reaktion auf eine erste Initiative von Pro Velo Schweiz, welche die Bundesregierung verpflichten sollte, die Koordination der Entwicklung der Fahrradinfrastruktur in der Schweiz zu übernehmen.
Der Gegenentwurf ist weniger strikt und sagt, dass die Regierung Massnahmen ergreifen kann, um die Arbeit der Kantone zu koordinieren – sie muss aber nicht.
Pro Velo hat die Änderungen akzeptiert, und alle Parteien mit Ausnahme der SVP haben angekündigt, dass sie ein Ja unterstützen. Für die Annahme bedarf es einer doppelten Mehrheit: Die Mehrheit der Stimmenden und die Mehrheit der Stände.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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