Alpennomaden: Das harte Tagewerk der Familie Aellig
Romantik pur ist es nicht, idyllisch schon, auch wenn die Tage lang sind, die Arbeit aufreibend. Dennoch: Jeden Sommer ziehen tausende "Alpennomaden" mit ihren Herden in die Höhe, so auch die fünfköpfige Familie Aellig aus Reichenbach im Kandertal. Rund zehn Wochen bleiben sie auf der Engstligenalp im Berner Oberland. Sie kommen ohne ausländisches Personal aus, dafür müssen die Kinder wacker anpacken.
Engstligenalp
Die Engstligenalp, ein Naturschutzgebiet, liegt auf 1950 m.ü.M. im Berner Oberland. 185 Kühe, 128 Rinder, 194 Kälber, 1 Stier und 18 Ziegen verbringen rund zehn Sommerwochen auf dieser Hochebene. In den 13 Senntümern wird vor allem Alpkäse produziert und verkauft. Die Engstligenalp gehört zur Gemeinde Adelboden, ist aber im Besitz einer Alpgenossenschaft. Diese Alpschaft zählt 92 Personen mit insgesamt 340 Kuhrechten. Anstelle einer Kuh kann man auch z.B. 6 Ziegen auf die Alp treiben.
Den ganzen Tag lang haben Sofia, Soldanelle, Salome, Flora und Furka mit rund 500 weiteren Artgenossinnen (die meisten mit Hörnern!) auf dem Hochplateau knapp 2000 m.ü.M. geweidet und Unmengen an frischem Gras und saftigen Kräutern verdrückt. Jetzt stehen sie im Stall der Familie Aellig und werden gemolken. Martina, die 14-jährige Tochter, hat Stalldienst.
Sie schnallt sich den hölzernen einbeinigen Melkschemel um, massiert der ersten Kuh die Euter, um sie dann an die Melkmaschine anzuschliessen. Vater und Tochter sind ein eingespieltes Team.
Nach einer guten Stunde sind die 21 Kühe gemolken (11 eigene, 10 gehören dem Onkel). Eine Kuh gibt pro Tag rund 20 Liter Milch. Neben den Kühen hält Aellig Kälber und Mastrinder sowie eine Handvoll Schweine. Und dann ist da noch Claudio, der einzige Stier auf der Engstligenalp.
Ende Juni haben die Aelligs mit ihrer Herde, zusammen mit anderen Bauern und Sennen und deren Vieh, die 600 Höhenmeter über den felsigen und steilen Saumpfad unter die Füsse genommen, hinauf zur 700 Hektaren grossen Hochebene. Trächtige Kühe und ganz junge Kälber werden per Bergbahn befördert, eine Strasse gibt es nicht.
Der Alpaufzug zieht jeweils hunderte Schaulustige von nah und fern an. Sogar das südkoreanische Fernsehen war schon da. Nebst den Kuhherden ist auch der Blick auf den 3244 Meter hohen Wildstrubel und die anderen Berge spektakulär.
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Alpaufzug auf die Engstligenalp
Die Sennhütte ist seit drei Generationen im Besitz der Familie, das Weideland gehört der Alpgenossenschaft, deren Präsident Abraham Aellig ist.
Schon als kleiner Bub verbrachte Aellig (43) jeden Sommer hier oben. Ihm gefällt die Alpzeit, trotz der langen Arbeitszeiten. «Ich komme gerne auf die Alp, gehe aber auch gerne wieder runter im Herbst.» Seine Frau Tanja (41), die früher als kaufmännische Angestellte gearbeitet hat, mag die Zeit auf der Engstligenalp ebenfalls, obwohl sie gerne etwas mehr Privatsphäre hätte.
«Es ist immer viel los, Touristen kommen vorbei, Nachbarn wollen irgendetwas… unten im Tal ist es ruhiger.» Besonders hart sei es gewesen, als die Kinder noch klein waren, oder krank. «Da war man des Öftern am Limit.»
In der Tat ist der Alltag auf der Alp kein Zuckerschlecken. Er beginnt um 5 Uhr in der Früh mit Melken, Tiere auf die Weide treiben, Kälber füttern, Stroh auslegen, Mist auf die Weide führen, Käse machen, am Abend Kühe eintreiben, melken, misten… Feierabend ist kaum vor 21 Uhr. Hinzu kommt, dass die Aelligs auch auf ihrem Land unten im Tal grasen und heuen müssen.
Während in der Schweiz wegen Mangel an Alppersonal gut ein Drittel der Sennen und Hirten aus dem nahen Ausland stammt, sind auf der Engstligenalp gerade mal zwei Deutsche im Einsatz. Fast alle Alphütten auf der Engstligenalp werden von Familien bewirtschaftet. Häufig sind es die «Alten», die auf der Alp übersommern, während die jüngere Generation den Betrieb im Tal aufrechterhält.
Aelligs müssen beides tun, da die Grosseltern gestorben sind. Ohne Mitwirken der Kinder ginge das alles nicht, sagt Abraham Aellig. «Sie helfen tüchtig mit und lernen so, auch Verantwortung zu übernehmen.»
Heute ist wie gesagt Martina im Stall, morgen wird es Ursina (12) sein, die heute den Tisch deckt und gleichzeitig mit dem jungen Kater Hansueli spielt, und auch der 10-jährige Andrin wird eingespannt.
Er mag Tiere über alles, hat zwei eigene Ziegen (Camila und Lara) und zeigt Interesse am Bauern – jetzt aber tollt er lieber mit seinem Freund und Schwingerkollegen Reto herum, der hier Ferien macht. «Sie sollen alle einen Beruf lernen, wir zwingen niemanden, Bauer zu werden», sagt Vater Abraham, der sich als «Ham» vorstellt.
Martina, der Teenager, wäre trotzdem lieber bei ihren Freundinnen unten im Tal…, «dann könnte ich wieder mal richtig duschen». Die Sennhütte der Aelligs hat zwar Strom, aber kein Heisswasser; Zähneputzen und Waschen wird am Brunnen vor der Hütte erledigt.
Just als der Feierabend naht, kommt Nachbar Wäfler vorbei. Eine Kuh sei «stierig» (brünstig), meldet er. Claudio, der Stier ist gefragt. Abraham Aellig holt ihn aus dem Stall und führt ihn zur Nachbarskuh. Nach ein paar wenigen Minuten ist die Sache erledigt. «Er hat seinen Job gemacht», sagt Aellig trocken.
Es ist früher Morgen. Abraham Aellig hat seine Simmentaler Kühe gemolken, dann wird gefrühstückt, während im Käsekessel die Milch erhitzt wird. Knapp die Hälfte der Milch wird an die Kälber verfuttert, rund 160 Liter täglich werden zu Käse verarbeitet.
In den ersten Alpwochen stellt Tanja Aellig Raclettekäse und Mutschli her, später dann Alpkäse, der vor Ort verkauft wird. Insgesamt entstehen hier bis Ende Saison rund 800 kg Käse.
Die Vorschriften sind streng: Milchmenge, Temperatur, pH-Wert sowie andere Daten werden in einen Ordner eingetragen. Neben der Küche befindet sich das Lager, wo die Käselaibe jeden Tag mit Salzwasser eingerieben und gewendet werden.
Primär dreht sich die Sömmerung auf der Alp um die Versorgung der Tiere und die Milch- und Käseproduktion, aber es geht auch um Tradition, um Kulturgut. Dass es seit 2014 vom Bund höhere Sömmerungsbeiträge pro Kuh gibt, mag ein Anreiz sein.
Aber, so Tanja Aellig: «Schon wieder wird in Bern über eine Kürzung der Beiträge für Kurzzeitalpen diskutiert, wie die Engstligen eine ist. Dabei sollte man doch wertschätzen, was wir tun: nämlich die Landschaft erhalten und pflegen, was der ganzen Bevölkerung zu Gute kommt. Ohne die Älpler wären die Wege nach ein paar Jahren überwuchert, die Hochebene vergandet – und die Touristen würden ausbleiben.»
Berner Oberland
In den Berner Oberländer Alpen gibt es rund 1100 Sömmerungsbetriebe, die Hälfte davon Alpkäsereien. Sie produzieren pro Jahr etwa 1200 Tonnen Alpkäse.
2016 weideten dort über 20’000 Milchkühe, mehr als 30’000 Rinder und Kälber, 20’000 Schafe, 4500 Ziegen, 400 Pferde sowie 450 Alpakas und Lamas.
Die Sömmerungsbeiträge des Bundes an die Alpbewirtschafter beliefen sich für diese Region auf 16 Mio. Franken.
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