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Schweizer in Katar: «Ein Tsunami von Menschen kommt auf uns zu»

Menschen auf dem Corniche in Doha vor der Fussball-Weltmeisterschaft
2,9 Millionen Tickets sind gemäss FIFA für die Spiele der Fussball-WM verkauft worden. Bei den Schweizer Fans ist das Interesse mit rund 2500 verkauften Tickets nicht sehr gross. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved.

Vor dem WM-Start in Katar. Wie lebt es sich als Schweizer:in in einem Land, das die Meinungsfreiheit einschränkt und im Vorfeld der WM so stark kritisiert wurde? Der Küchenchef Simon Wipf erzählt von seinem Leben in Doha.

«Wenn man hier lebt, ist klar: Man muss die Kultur und Religion respektieren. Küsse, Umarmungen, Händchenhalten – das wird in der Öffentlichkeit nicht gerne gesehen. Die Regeln hier sind streng, früher war es aber strenger. Dafür ist das Sicherheitslevel hoch.

Es wird gut kontrolliert, an jeder Ecke sind Kameras installiert. Wenn man einen Blödsinn macht, wenn man zum Beispiel zu schnell fährt, wird man schnell erwischt. Nicht, dass mir das schon passiert wäre. Aber ich habe schon von solchen Fällen gehört.

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Ich lebe seit vier Jahren in Doha, der Hauptstadt Katars. Seit über 19 Jahren bin ich nicht mehr in der Schweiz zu Hause, über eine Rückkehr denke ich ab und zu nach. Nach meiner Kochlehre zog ich in die weite Welt hinaus: Ich war in Kanada, den USA, in Malaysia, Brunei, in Paris, Hongkong, Istanbul, auf Kreuzfahrtschiffen, am Flughafen. Zuletzt war ich Küchenchef in Dubai – in einem Restaurant im 68. Stock.

Ich musste hart arbeiten, bis ich dort war, wo ich jetzt stehe. Erst seit ein paar Jahren bin ich als Koch erfolgreich. Während meiner Karriere rund um den Globus war ich in der Küche eigentlich immer der einzige Schweizer.

Hier in Doha arbeitete ich bis vor ein paar Monaten im Intercontinental Hotel. Kürzlich habe ich aber einen neuen Job als Executive Chef angefangen – in einem neuen Fünf-Sterne-Hotel, das kurz vor der Eröffnung steht.

Doch leider wird das Hotel nicht mehr fertig bis zum Anpfiff der WM. Es gibt einige Hotels, die es nicht mehr schaffen werden, rechtzeitig zu eröffnen. Deshalb werde ich während des Turniers in der Küche eines anderen Hotels meines Arbeitgebers aushelfen. Es werden bestimmt strenge Wochen, aber ich freue mich.

Auslandschweizer Simon Wipf in seiner Koch-Uniform.
Simon Wipf lebt seit vier Jahren in Katar. zVg

Für die Gastronomie wird die Weltmeisterschaft eine grosse Herausforderung, die einer unglaublichen Planung bedarf. Es kommt ein Tsunami von Menschen auf uns zu, die alle essen und trinken wollen. Im Sommer wurden verschiedene Prognosen erstellt für den Lebensmittelverbrauch während der WM. Fast alles muss importiert werden – wobei es mittlerweile auch Gemüse und Milchprodukte ‹Made in Katar› gibt.

Die Caterings in den Fanzonen und in den Stadien müssen Zehntausende von Essen bereit haben. Dabei stellt in erster Linie die Logistik ein Problem dar. Wie liefert man diese Unmengen von Essen? Man müsste extra Dutzende von Lastwagen organisieren. Und wie kommt man überhaupt von A nach B, wenn viele Strassen in der Stadt gesperrt sind?

Auch unser Hotel hat Catering-Anfragen erhalten, aber es hat abgesagt. Jetzt richten wir im Hotel eine eigene Fanzone ein.

Dazu kommt der Personalaufwand. Im Moment braucht es in jedem Hotel in Doha mehr Mitarbeitende, die nicht zur Verfügung stehen. Wir haben fast 40 zusätzliche Köche angestellt, die meisten sind Praktikant:innen aus Indonesien.

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Zum Glück gab es Testspiele. So konnten die Organisator:innen noch einiges für den Ernstfall lernen. Einmal war das Wasser im Stadion ausverkauft. Ein anderes Mal bin ich fast erfroren, weil sie die klimatisierten Sitze so stark runtergekühlt haben. Und beim gleichen Spiel musste ich eineinhalb Stunden warten, bis ich einen Bus besteigen konnte, der mich nach Hause gebracht hat.

Zur Kritik an der Fussball-Weltmeisterschaft in Katar und den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter kann und will ich öffentlich nichts sagen. Sicherlich gibt es immer wieder Sachen, die nicht so gut laufen, aber ich selbst habe nichts mitbekommen und will auch nichts damit zu tun haben.

Ich habe ein gutes Leben hier. Die Sonne scheint jeden Tag und das gibt gute Energie. Auch wenn es während der Sommermonate viel zu heiss ist. Dann fehlt mir die Schweizer Natur und die frische Luft. Zu Hause würde ich jetzt Pilze sammeln oder Joggen gehen.

Simon Wipf auf dem Eis am Hockey spielen
Auch in Katar kann der Auslandschweizer Eishockey spielen. zVg

Meinem Hobby, dem Eishockey spielen, kann ich aber auch in Katar nachgehen. Hier habe ich auch einige Katarer:innen kennengelernt. Doch die Bekanntschaften bleiben oberflächlich, die Einheimischen sind etwas zurückhaltend, aber freundlich und hilfsbereit. Sie sind sehr interessiert an der Schweiz und ich hatte schon einige Auftritte im katarischen FernsehenExterner Link.

Schweizer:innen kenne ich in Doha nicht sehr viele. Es gäbe zwar immer wieder Veranstaltungen, an denen man sich trifft, aber durch meinen Beruf und Alltag kann ich oft gar nicht daran teilnehmen.

Die Schweizer Spiele werde ich im Stadion jedoch schauen gehen. Obwohl die Preise sehr hoch sind, um nach Doha zu kommen, hoffe ich auf viele Schweizer Fans.»

Katar sieht sich seit der WM-Vergabe mit heftiger Kritik konfrontiert. Zwar haben sich die Bedingungen für Wanderarbeiter:innen seit dem Austragungsentscheid des Weltfussballverbandes FIFA verbessert. Aber die Kritik reisst nicht ab.

Einen Monat vor Anpfiff der Fussball-WM hat Amnesty International einen neuen BerichtExterner Link publiziert, indem die NGO noch vor dem WM-Start von Katar und dem Fussballverband Fifa drastische Verbesserungen fordert. Die Missstände sind laut Amnesty International noch lange nicht behoben: Homophobe Gesetze, Einschränkungen der Pressefreiheit und arbeitsrechtliche Mängel.

«Tausende Arbeitsmigrant:innen stehen weiterhin vor dem Problem, dass ihre Löhne verspätet oder gar nicht bezahlt werden, ihre Ruhetage gestrichen und ein Jobwechsel verunmöglicht wird. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich gegen diese Verstösse rechtlich zu wehren», schreibt Amnesty International. Zudem seien die Todesfälle von tausenden Arbeitsmigrant:innen in Katar ungeklärt.

Im Land am Persischen Golf leben rund 3 Millionen Menschen, wovon allerdings nur 15% Kataris sind. Den Hauptteil der Bevölkerung machen Arbeitsmigrant:innen ohne katarische Staatsbürgerschaft aus. Das Land hat eine der höchsten Ausländer:innenquote der Welt.

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