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Die fleissigen Studenten hinter den Kulissen von Locarno

Zwei Filmstudenten sitzen am Boden und reden miteinander.
Über 80% der Absolventen der Filmschule Locarno finden Arbeit in der Film- und Fernsehbranche. swissinfo.ch

Im August ist die charmante Stadt Locarno im Süden der Schweiz zehn Tage lang voll von internationalen Filmemachern und Filmfans, als Gastgeberin eines der bedeutendsten europäischen Filmfestivals. Dieses verdankt zumindest einen Teil seines Erfolgs lokalen Filmstudenten, die hinter den Kulissen arbeiten.

Mit der nunmehr 71. Ausgabe des Festivals, ist die Filmtradition in der ansonsten ruhigen, italienischsprachigen Stadt am Nordufer des Lago Maggiore fest verwurzelt. Locarno ist deshalb ein ideales Zuhause für die Akademie für audiovisuelle Wissenschaften (CISA), die 2017 aus Lugano wegzog.

Eine Menschenschlange wartet auf einem roten Platz vor einem Haus mit beleuchteten Fenstern.
PalaCinema ist sowohl Kino als auch Sitz der CISA und des Festivalbüros Das erleichtert die Zusammenarbeit. Keystone

Wofür steht diese Schule und was zeichnet sie aus? Eine Übersicht über die Geschichte der Beziehung der Filmschule zum Festival, erzählt mit Hilfe von sechs Filmtiteln.

Help! (Hi-Hi-Hilfe!, musikalische Komödie mit den Beatles, 1965)

Die CISA unterstützt das Festival nunmehr seit zwölf Jahren. Im Jahr 2018 wurde die Schule «akademische Partnerin» des Festivals. Das habe CISA viel Werbung eingebracht, sagt Direktor Domenico Lucchini. «Wir dürfen die CISA nun als Festival-Schule bezeichnen, und wir können das Festival-Logo auf all unseren Kommunikationen verwenden.»

Aufnahme eines Herrn mit Brille und Bart.
Domenico Lucchini, selbst Regisseur, führt die CISA in die Zukunft. swissinfo.ch

Die Studierenden machen während des Festivals alle Videos für den internen TV-Kanal Pardo LiveExterner Link und produzieren jährlich fünf bis sechs Kurzfilme, die das ganze Jahr über genutzt werden können, um das Interesse am Schweizer Event zu wecken. Einer dieser Trailer wurde im April 2018 am «Locarno in Los AngelesExterner Link» gezeigt. Das viertägige Minifestival, eine Kooperation zwischen dem Filmfestival von Locarno, einem Kino in Los Angeles und dem Schweizer Generalkonsulat von Los Angeles, zeigte Filme aus der 70. Ausgabe des Festivals.

«Die Partnerschaft mit dem Festival von Locarno ist ein riesiges Trainingsgelände für unsere Studenten», sagt Lucchini. Sie ermögliche es ihnen, die erlernten Fähigkeiten zu üben und mit Fachleuten aus der Branche zusammenzuarbeiten.

The  Italian Job (Jagd auf Millionen, Britischer Film mit Michael Caine, 1969)

Die Absolventen der CISA sind alle italienischsprachig. Die Akademie erhält bis zu 40 Bewerbungen pro Jahr, nimmt aber nur 15 Studierende auf. Sie müssen mindestens 18 Jahre alt sein und über eine Zulassung für Hochschulen verfügen. Die Schule akzeptiert auch Bewerber, die eine Ausbildung im Bereich Bildende Kunst absolviert haben.

Es gibt mehr oder weniger einen Lehrer pro Schüler. Der Unterricht findet auf Italienisch statt, ausser in den Masterkursen mit Grössen aus der Film- und Fernsehbranche, die in der Regel auf Englisch abgehalten werden.

Behindert dieser Fokus auf die italienische Sprache nicht die Bemühungen der Schule um mehr Anerkennung? Vielleicht, aber Lucchini will nichts wissen von einer Änderung: «Unsere Sprache ist Italienisch, weil die Schule im Tessin geboren wurde und unser Geist und unsere Identität von hier kommen», sagt er.

Bei einem Besuch traf swissinfo.ch Studenten, die an ihren Abschlussfilmen arbeiteten:

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Student looking through camera

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Nachwuchsregisseure erklären, warum sie die Filmschule mögen und wie sie mit dem Locarno Festival zusammenarbeiten.

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The Arrival (The Arrival – Die Ankunft, Science-Fiction-Film mit Charlie Sheen, 1996)

Als die Filmschule im Tessin ankam, galt sie als «eine Art UFO» in einer Landschaft ohne Hochschulen und Universitäten, wie Lucchini sagt. Filmemacher Pio Bordoni gründete die Schule 1992 in Lugano. Sein Ziel war es, eine praxisorientierte Institution schaffen, welche die Studenten auf die Arbeitswelt vorbereitet.

Es folgte ein Kampf um Anerkennung und Bordoni investierte viel eigenes Geld, um die Schule am Laufen zu halten. Der Durchbruch gelang 1999, als der Kanton sie als Kunstgewerbeschule anerkannte und sie finanziell unterstützte.

Darkest Hour (Die dunkelste Stunde, Kriegsdrama mit Gary Oldman als Winston Churchill, 2017) 

Was folgte, war wohl die dunkelste Stunde der Filmschule. Im Jahr 2005 starb Bordoni und hinterliess gewissermassen ein Schiff ohne Ruder. Es folgten einige Interimsdirektoren, bevor Lucchini 2007 auftauchte und die Einrichtung als technische Hochschule, vergleichbar mit einer Universität, neu gründete. Im Jahr 2017 wurde der Nachdiplomstudiengang «Cineasta Cinetelevisivo» vom Verband anerkannt.

Während die anderen Filmschulen der Schweiz in Lausanne, Genf und Zürich an die Kunstfakultäten angeschlossen blieben, spezialisierte sich die CISA als einzige Fachhochschule auf die Berufsausbildung. Sie wird vom Bund, dem Kanton Tessin und der Gemeinde Locarno finanziert und erhebt Studiengebühren von bis zu 9’000 Franken pro Jahr.

«Wenn ein Student drei Jahre absolviert, weist er ein erstaunliches Portfolio auf», rechtfertigt Lucchini die Kosten. «Er hat bis zu vier eigene Filme gemacht. Es ist möglich, den Jahresendfilm mit externen Produzenten oder mit dem Fernsehen zu realisieren. 25 unserer Diplomfilme wurden als Koproduktionen mit dem Fernsehen gedreht und im Fernsehen gezeigt.»

Ein junger Manns steht vor einer halboffenen Türe, zu seinen Füssen liegen Taschen.
Edoardo Nerboni studiert im zweiten Jahr an der CISA. Er kümmert sich um die Facebook-Seite des Filmfestivals. swissinfo.ch

Sweet Smell of Success (Dein Schicksal in meiner Hand, Filmdrama mit Burt Lancaster und Tony Curtis, 1957)

Die CISA weist eine hohe Erfolgsquote auf: Rund 85% der Studierenden finden im Filmbusiness Arbeit. Viele von ihnen werden vom italienischsprachigen Schweizer Fernsehen RSI engagiert. Mit RSI rief die Schule das Diplom «Creative Producer» ins Leben, um den Schülern die Fachkenntnisse zu vermitteln, die sie für die Arbeit beim öffentlichen Rundfunk brauchen. 20 ehemalige Studenten arbeiten laut Lucchini für RSI. Andere sind für Produktionsfirmen, Kinos oder das Filmfestival tätig.

Einige der Diplomfilme werden für Locarno oder andere Schweizer Filmfestivals ausgewählt, während einige Studenten auf der internationalen Bühne Anerkennung finden. Ein Beispiel ist Stefano Etter, der mit The Lives of MeccaExterner Link (über Handballer auf Coney Island) am Filmfestival im italienischen PiemontExterner Link den Preis für den besten Dokumentarfilm gewann.

This Is the End (Das ist das Ende, Filmkomödie, 2013)

Das Internet ist überschwemmt mit Geschichten über Menschen, deren Videos auf YouTube viral gegangen sind. Blogger und Teilzeit-Videomacher werden zu Superstars. Die Frage, ob es angesichts dieser Tatsachen heute überhaupt noch Filmschulen brauche, beantwortet Lucchini mit Ja: «Du kannst nicht einfach rausgehen, etwas auf deinem iPhone filmen und denken, dass das reiche. Viele, die sich für unsere Schule anmelden, haben bereits eine Reihe von Videos für YouTube gemacht. Sie wissen aber, dass dies erst der Anfang ist: Sie brauchen mehr Übung, um ihre filmischen Fähigkeiten zu perfektionieren.»

Aber kann man im digitalen Zeitalter überhaupt noch von einer Filmindustrie sprechen? Im Januar 2018 berichtete Bloomberg, dass 2017 für Hollywood ein schreckliches Jahr war, in dem die Zahl der Kinobesucher auf den niedrigsten Stand seit einer Generation fiel. Dies könnte zum Teil an der Beliebtheit von Online-Streaming-Netzwerken wie Netflix liegen, aufgrund derer potenzielle Kinobesucher zu Hause vor dem eigenen Bildschirm bleiben.

Offenbar gibt es keinen Grund zur Panik. Der italienische Film- und Fernsehtheoretiker Francesco Casetti betont, dass das Kino einfach in neue Räume und auf neue Geräte verlegt werde. CISA-Direktor Lucchini spricht gar von einer Win-Win-Situation: «Es entstehen immer mehr Plattformen, auf denen man Filme sehen kann, und das kann nur positiv sein».

Filmfestival Locarno

Mit Jahrgang 1946 gilt Locarno als eines der ältesten Filmfestivals. Es zählt heute zu den bedeutendsten vier Filmfestivals der Welt. Die Hauptleinwand auf der Piazza Grande ist die grösste ihrer Art in Europa: Die Piazza als Openair-Kino bietet Platz für 8’000 Zuschauer. Das Festival ist eine wichtige Besucherattraktion, die laut Angaben der StadtExterner Link bis zu 30 Millionen Franken an Einnahmen generiert.

Locarno war die erste internationale Bühne für eine ganze Reihe von Regisseuren wie Jim Jarmusch, Spike Lee und Gus Van Sant. Die Veranstaltung, die jeweils vom 1. bis 11. August stattfindet, bietet Mainstreamfilme aber auch teure Filmproduktionen. Ausserdem ist sie eine grosse Plattform für kleine Filme.

Regisseur Jay Duplass sagte einmal: «Die Gäste kommen nicht, um für ihren Film oder ihr Drehbuch zu werben oder um berühmten Leute zu treffen, sondern um Filme und das Leben zu feiern.»

(Übertragung aus dem Englischen: Kathrin Ammann)

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