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Flüchtlingsdrama: «Schweiz liegt am Meer»

Hilfe Ja, aber lieber keine Aufnahme. Die Massnahmen der EU zielen vor allem darauf ab, die Flüchtlinge fernzuhalten. Keystone

"Die europäische Politik versagt. Das Massengrab Mittelmeer wird noch mehr Menschen verschlingen." "Mit Symptombekämpfung ist es nicht getan."  "Katastrophe ohne Ende." Die Schweizer Presse ist von den Massnahmen der EU und der Schweiz zur Bekämpfung des Flüchtlingsdramas nicht überzeugt.

Um schiffbrüchige Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten, verdreifachen die EU-Staaten ihre Mittel für die Grenzschutzoperationen «Triton» und «Poseidon» vor der italienischen und griechischen Küste. Das Budget soll von monatlich drei auf neun Millionen Euro erhöht werden. Die EU-Regierungschefs setzen dabei auf einen Ausbau der EU-Präsenz im Mittelmeer, auf die Bekämpfung der Schlepper, auf Präventionsmassnahmen in Afrika und auf die Entlastung der vom Flüchtlingsstrom am stärksten betroffenen EU-Staaten. Mehrere Länder versprachen zudem, insgesamt zehn Schiffe in die Region zu schicken.

«Doch wer Hoffnungen auf eine grundsätzlich neue Asylpolitik gehegt oder geweckt hatte wie die Demonstranten von Amnesty International vor dem Ratsgebäude, wurde gestern enttäuscht», schreibt das St. Galler Tagblatt mit dem Hinweis, dass gewisse EU-Regierungschefs nicht nur an die Flüchtlinge, sondern vor allem an ihre eigene Wählerschaft denken würden.  

«Das machte Cameron schon bei seiner Ankunft deutlich. Britische Schiffe würden helfen, die Schiffbrüchigen zu retten – aber nur, wenn sie diese danach im nächsten Land absetzen könnten.» Cameron müsse sich am 7. Mai den Wählern stellen, und seine konservative Partei kämpfe dabei gegen die EU- und einwanderungsfeindliche Partei Ukip an. «Da will der Premier nicht kurz vor den Wahlen mehr Asylbewerber ins Land lassen.»

Auch der bulgarische Regierungschef habe sich kritisch geäussert, schreibt die Ostschweizer Zeitung weiter und zitiert Boyko Borissov mit den Worten: «Eine Million Flüchtlinge wartet darauf, die bulgarische Grenze zu überqueren. Unsere Lage ist schwieriger als jene Italiens. Wenn sie sich beklagen, werde ich mich auch beklagen.»

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«Flüchtlinge verteilen»

«Der Wahlkampf lässt grüssen», kommentiert die Luzerner Zeitung den Auftritt des britischen Premierministers: «Er offeriert Schiffe und Helikopter zur Rettung der Migranten – unter der Bedingung, dass diese keinen Fuss auf die britische Insel setzen, sondern in Italien oder Griechenland abgesetzt werden.»

Dass sich die EU-Chefs darauf konzentrierten, den Kampf gegen Schlepper zu verstärken, die Asylverfahren zu beschleunigen und Asylbewerber fernzuhalten, sei zwar nötig, aber «die europäischen Länder müssen sich auch darauf verständigen, die Flüchtlinge unter sich zu verteilen. Sonst schmoren die Geretteten in überfüllten italienischen und griechischen Asylzentren, bevor sie weiterreisen – hauptsächlich nach Deutschland, Frankreich, Schweden und in die Schweiz.»

Ins gleiche Horn stösst die Westschweizer Zeitung 24 heures. «Die europäischen Führer fürchten sich, der öffentlichen Meinung entgegenzutreten.» Die Aufnahme von 5000 Personen, welche die EU zugesichert habe, entspreche – angesichts der 160’000 Migranten, die 2014 in Italien angekommen seien – einem Tropfen in einem Ozean von Hoffnungslosigkeit. Und eine Million Asylsuchende warteten bereits an der Küste Libyens auf eine Überfahrt nach Italien.

EU-Sondergipfel

Nach mehreren Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer will die EU die Mittel für ihre Grenzschutzmission verdreifachen. Mit einem verstärkten Engagement der Marine mehrerer EU-Staaten soll sowohl die Seenotrettung verstärkt als auch der Kampf gegen Schlepperbanden aufgenommen werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kündigten nach einem Sondertreffen zur Flüchtlingskrise in Brüssel zudem an, dass die Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsländern der Flüchtlinge in Afrika verstärkt werden solle. Die EU werde künftig auch Beamte in Drittstaaten einsetzen, um zu prüfen, ob Flüchtlinge in die EU kommen könnten. Die Union wolle zudem die Rückführung derjenigen beschleunigen, die in der EU nicht aufgenommen werden könnten.

(Quelle: Reuters)

Auch die Vereinten Nationen seien mit den bescheidenen Massnahmen Europas nicht zufrieden, berichtet 24 heures und zitiert aus einer Mitteilung der UNO in Genf: «Europa muss von seiner minimalistischen Position abrücken. Die Führer der Europäischen Union müssen dem Respekt des Lebens und der Menschenwürde Priorität einräumen.»

«Kriminalisierung der Not»

Die Schweiz sei als EU-Nichtmitglied für einmal auch klar Teil des Kontinents, heisst es in einem Kommentar, der im Berner Bund und im Zürcher Tages-Anzeiger erscheint: «Es mindert die Lust am eigenen Wohlstandsglück, wenn Tausende auf dem Weg zu uns ertrinken – Männer, Frauen, Kinder, die auch ein wenig so leben wollten wie wir», schreiben die beiden Zeitungen unter dem Titel «Die Schweiz liegt am Meer».

Als Binnenland sei die Schweiz zwar nicht Erstdestination der Schlepperboote, und am EU-Gipfel habe sie gefehlt, aber «in der Pflicht ist sie trotzdem. Auch in der Schweiz suchen jeden Monat Menschen Asyl, die übers Meer gekommen sind – aus Syrien, Mali, Eritrea.»

Bundespräsidentin Sommaruga habe versprochen, dass die Schweiz helfen werde. «Wenn die europäische Grenzagentur Frontex jetzt ihre Arbeit ausbaut, wird die Schweiz sich wohl an den Kosten beteiligen. Das ist richtig und gerecht.»

Ernüchternd sei aber, dass Frontex weiter primär auf Abwehr und Abschreckung setze. Damit gehe weiter, was der britische Ethiker Kenan Malik «die Kriminalisierung der Not» nenne.

«Mehr liegt nicht drin, heisst es nun in der Schweiz. Wegen politischer Realitäten. Legale Fluchtkorridore nach Europa? Dann kommen sie alle. Neuauflage des Mare-Nostrum-Programms zur Seerettung? Zu teuer. Erhöhung der Kontingente für Kriegsflüchtlinge? Will angeblich die Bevölkerung nicht, die schon heute gegen Asylzentren im Dorf wettert», fragt der Kommentator rhetorisch und meint:   

«Die Bevölkerung wird unterschätzt. Allen Überfremdungsängsten zum Trotz: Niemand will Kinder im Meer sterben sehen. Wenn die Alternative Ertrinken lautet, sollte vieles möglich sein.» Auch in der Seerettung könnte die Schweiz eine aktivere Rolle spielen – «nicht mit Schiffen, aber finanziell.»

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