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Das Dilemma der Hilfe auf der Balkanroute

Médecins du Monde behandelt in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien täglich rund 200 Patienten, 44 Prozent sind minderjährig. Thierry Dutoit

Sie benötigen Hilfe, sind aber ständig unterwegs. In den Balkanstaaten bleiben die Flüchtlinge oft nur wenige Minuten am gleichen Ort, bevor sie ihren Weg nach Westeuropa fortsetzen. Für die humanitären Organisationen, die von der Schweizer Glückskette unterstützt werden, ist das eine neue Herausforderung.

«Die Schwierigkeit besteht darin, Menschen zu helfen, die unterwegs sind.» Thierry Dutoit hat den Einsatz von Médecins du Monde an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien koordiniert. Die Organisation leistet medizinische Betreuung für rund 6000 Flüchtlinge, die täglich Idomeni durchqueren, eine Grenzstadt zwischen den beiden Ländern.

«Das grosse Problem ist, dass die Migranten nicht lange in Idomeni bleiben. Ihr Aufenthalt dauert manchmal nur zehn Minuten, höchstens aber sechs Stunden. Ihre Priorität ist es, die Grenze zu überschreiten und ihren Weg fortzusetzen», sagt Dutoit. In so kurzer Zeit ist es schwierig, Menschen effiziente Hilfe zu leisten, die häufig traumatisiert sind und zwingend psychologische Unterstützung benötigen würden. «Was die mentale Gesundheit anbelangt, sind wir ohnmächtig, weil uns dafür nicht genügend Zeit zur Verfügung steht», sagt der Schweizer.

Médecins du Monde muss sich aufs Dringlichste beschränken. Die Organisation bietet rund 200 Konsultationen pro Tag. Rund 44 Prozent betreffen Minderjährige. «Zusätzlich zur Behandlung von Notfällen müssen auch Personen mit chronischen Krankheiten für die Weiterreise behandelt werden. Wir versuchen, die Durchreise von Personen anhand eines Kontrollsystems zu erleichtern», erklärt Dutoit.

Was macht die Glückskette?

Die Glückskette ist eine Schweizer Stiftung, die Sammlungen für konkrete Hilfsprojekte durchführt. Sie arbeitet mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) zusammen, zu der auch swissinfo.ch gehört, sowie mit 25 Schweizer Hilfswerken.

Die Stiftung geniesst die exklusive Unterstützung des Service public von Radio und Fernsehen, arbeitet aber auch mit privaten Medien zusammen. Mit dem gesammelten Geld finanziert sie Projekte ihrer Partner, die Erfahrung in der Nothilfe und im nachhaltigen Wiederaufbau haben.

Das Projekt von Médecins du Monde Schweiz in Idomeni, an der Grenze zu Griechenland und Mazedonien, wird von der Glückskette mit rund 190’000 Franken unterstützt. Der Unterstützungsbeitrag des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz für den 4-monatigen Einsatz an der serbischen Grenze beläuft sich auf insgesamt 320’000 Franken. Der Anteil der Glückskette beträgt 193’000 Franken.

(Quelle: Glückskette)

Umstrittene Teilung

Das Projekt von Médecins du Monde gehört zu jenen Aktivitäten, die von der Glückskette mitfinanziert wird. Insgesamt hat die Schweizer Stiftung im Rahmen einer im September lancierten Kampagne 24,6 Millionen Franken zugunsten der Flüchtlinge gesammelt.

Die Verteilung des gesammelten Betrags hat viel Kritik ausgelöst. Nur 10 Prozent der Spenden durften anfänglich für Hilfsprojekte auf dem Balkan verwendet werden, während mehr als 90 Prozent des Totals für laufende Projekte in Syrien, Irak und andere Länder der Region bestimmt waren. Diese Bestimmung hat bei zahlreichen Akteuren der humanitären Hilfe, namentlich bei Caritas, für Unverständnis gesorgt.

Inzwischen hat die Glückskette ihre Verteilung angepasst. Fünf Millionen Franken (rund 20 Prozent) sollen nun zugunsten der Flüchtlinge eingesetzt werden, die nach Europa unterwegs sind, während rund 15 Millionen Franken (60%) für die Finanzierung von Hilfsprojekten in der Umgebung von Syrien bestimmt sind. Der Restbetrag, rund 4,6 Millionen Franken, ist als Reserve für neue Bedürfnisse gedacht ist. Diese Lösung scheint zu überzeuge: «Es ist eine gute Entscheidung, weil sie flexibles Handeln ermöglicht», sagte Caritas-Direktor Hugo Fasel gegenüber dem Tages-Anzeiger.

Die Glückskette teilt mit, dass sie vermehrt Hilfsprojekte in den Nachbarstaaten von Syrien (Jordanien, Türkei, Irak, Libanon) finanziert, weil sie schätzt, dass die Bedürfnisse in diesen Regionen, wo sich über 5 Millionen Flüchtlinge aufhalten, also 90 Prozent der Migranten der Syrienkrise, am dringlichsten sind.

«Die Flüchtlingsströme auf der Balkanroute haben für eine enorme Medienaufmerksamkeit gesorgt. Aber über die Situation in den Nachbarstaaten von Syrien wird viel weniger berichtet. Dabei stellen wir fest, dass die Bedürfnisse in diesen Regionen noch grösser und die Projekte kostspieliger sind», sagt Sophie Balbo, Mediensprecherin der Glückskette.

Die Strategie der Stiftung ist es deshalb, die Grundversorgung in jenen Ländern zu ermöglichen, in denen die Flüchtlinge zuerst eintreffen, um ihnen anständige Lebensbedingungen zu ermöglichen und zu verhindern, dass sie die gefährliche Reise nach Europa unternehmen.

Die Hilfsorganisationen befürchten weitere Grenzschliessungen. Thierry Dutoit

Flexibilität und Reaktionsfähigkeit

Weil die Situation auf der Balkanroute ständig ändert, will die Glückskette die Verteilung der Gelder laufend überprüfen. Die Hilfe müsse flexibel und reaktionsfähig sein. «Die Bedürfnisse verändern sich mit den Flüchtlingsströmen. Deshalb muss man in der Lage sein, den Ort zu ändern», sagt Sophie Balbo. Die Einrichtungen müssen sich einfach ab- und andernorts wieder aufbauen lassen. Einige Equipen folgen den Flüchtlingen sogar auf deren Route.

Die Wege, welche die Flüchtlinge einschlagen, lassen sich nicht einfach antizipieren. Die Schliessung einer Grenze zum Beispiel kann die Verhältnisse total ändern. «Als Ungarn im September die Grenzen dicht machte, waren die Flüchtlinge blockiert, worauf auch die humanitäre Hilfe dorthin verlagert wurde. Zuerst konnten noch einige Personen durchreisen, aber dann sind alle weggezogen», erzählt Sophie Balbo.

Thierry Dutoit befürchtet, dass gewisse Länder (zum Beispiel Österreich, das eine Barriere an der Grenze zu Slowenien errichten will) ihre Grenzen schliessen und andere dem Trend folgen könnten. «Die Situation kann sich von heute auf morgen verschlechtern. Wir haben schon eine temporäre Grenzschliessung wegen eines Problems mit Zügen erlebt, worauf sich innerhalb von fünf Stunden 3000 Personen ansammelten in einem Lager, das für 1500 gedacht war», sagt Dutoit.

Winter vor der Tür

Der bevorstehende Winter stellt die Flüchtlingshilfe der Hilfswerke vor ein weiteres Problem. Médecins du Monde verzeichnet schon jetzt einige Fälle von leichter Unterkühlung. Die Glückskette sieht vor, gezielte Massnahmen zu finanzieren, um auf die mit der Kälte verbundenen Bedürfnisse reagieren zu können. «Wir warten auf die Vorschläge unserer Partner, aber wir sind bereit, mehr Geld zuzuteilen, zum Beispiel für Einrichtungen, wo sich die Flüchtlinge an der Wärme aufhalten können», sagt Sophie Balbo. Einige Organisationen planen heizbare Unterstände aufzustellen oder Decken zu verteilen.

Joëlle Herren, Kommunikationsverantwortliche des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks), hat kürzlich drei Tage an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien verbracht, wo Heks lebensnotwendige Waren verteilt. «Als ich vor Ort war, kamen in der Nacht bis zu 4000 Personen an. Die Hilfswerke waren von der Bedarfsquantität überfordert. In solchen Situation fühlt man sich total ohnmächtig.» Aber das Verhalten der Migranten hat sie beeindruckt. «Es gab keine Drängeleien. Die Kinder weinten nicht. Die Leute sind solidarisch und helfen sich gegenseitig. Es sind Szenen unglaublicher Würde.»            

Für die Hilfskräfte, die nur punktuell und nicht dauerhaft helfen können, sich aber mit den Migranten stark identifizieren, ist die Situation überhaupt nicht einfach. Das bestätigt auch der Nothilfe-Koordinator von Médecins du Monde, Thierry Dutoit: «Wir stehen nicht 25-jährigen Männern gegenüber, wie es in Europa oft gesagt wird, sondern Familien, die uns sehr ähnlich sind. Es ist, als ob ein Schweizer Dorf umgesiedelt würde.»

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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