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Ein Wurm zur Vermeidung von Tierversuchen

C. elegans
Mit einem genetischen Erbe, das 60-70% mit jenem der Menschen identisch ist, beantwortet der Wurm "C. elegans" grundlegende Fragen zur Entwicklung und Alterung eines komplexen Organismus. Heiti Paves

Jedes Jahr werden mehr als 100 Millionen Tiere in wissenschaftlichen Versuchen eingesetzt. Nun haben zwei junge Wissenschaftler der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne eine Plattform aufgebaut, die es ermöglicht, umfangreiche Tests mit winzigen Würmern durchzuführen. Durch diese Methode lässt sich der Einsatz von Mäusen und anderen Wirbeltieren massiv reduzieren.

Der wissenschaftliche Name dieses Wurms lautet «Caenorhabditis elegans». Doch für Tausende von Wissenschaftlern heisst er einfach «C. elegans». Ein solches Würmchen zu finden, ist ganz einfach: Denn dieser gehört zur Familie der Nematoden (Fadenwürmer) und ist praktisch in allen Böden anzutreffen. Sehen kann man ihn aber nicht wirklich: denn er ist nur einen Millimeter lang und praktisch durchsichtig.

Noch schwieriger vorstellbar ist die Tatsache, dass dieser Mikroorganismus ein bedeutender Protagonist für die wissenschaftliche Forschung im letzten halben Jahrhundert war. Und doch ist es so: Gleich drei Nobelpreise verdanken sich diesem kleinen Wurm, namentlich in den Bereichen Medizin, Physiologie und Chemie.

Der Brite Sydney Brenner, einer der Gründerväter der Molekularbiologie und Genetik, war der erste Forscher, der in den 1960er-Jahren das unglaubliche Potential dieses Wurms erkannte. In über 20 Jahren seiner wissenschaftlichen Erforschung von C. elegans revolutionierte er das Wissen über die Lebewesen, indem er die genetische Regulation der Organentwicklung und des programmierten Zelltodes aufzeigte.

Laurent Mouchiroud e Matteo Cornaglia
Laurent Mouchiroud, links, promovierte in Biologie an der Universität Lyon und trat 2010 in die ETHL ein, um sich nach dem Doktorat mit den Prozessen von alternden Organismen zu befassen. Nach einem Bachelor-Abschluss in technischer Physik an der Polytechnischen Schule Turin erwarb Matteo Cornaglia einen internationalen Master-Abschluss in Nanotechnologie und promovierte mit einer Arbeit über Mikrosystemtechnik an der ETHL. swissinfo.ch

«Für die Wissenschaft ist es genauso wichtig, den richtigen Organismus zu wählen wie den richtigen Problemen nachzugehen», erklärte Sydney Brenner, als er 2002 den Nobelpreis erhielt. Damit lag er sicherlich goldrichtig: In den 1990er-Jahren waren die C. elegans sogar die ersten lebenden Organismen, von denen es möglich war, das komplette genetische Profil nachzuzeichnen und damit den Weg zur Sequenzierung des menschlichen Genoms zu ebnen. Auch heute noch stellt der Fadenwurm eines der am Weitesten verbreiteten Versuchsmodelle für die Zell- und Genforschung in Labors auf der ganzen Welt dar.

Zahl der Tierversuche nicht mehr rückläufig

Doch damit nicht genug. Zwei junge Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL), Laurent Mouchiroud und Matteo Cornaglia, sind überzeugt, dass dieser wirbellose Wurm, der kein zentrales Nervensystem hat, einen enormen Beitrag zur Reduzierung von Experimenten an Mäusen, Ratten und anderen Wirbeltieren leisten kann.

Diese Tierversuche, die oft mit unsäglichem Leid verbunden sind, sind in der Schweiz, genauso wie in anderen europäischen Ländern, genau reglementiert. Bewilligungen werden nur dann erteilt, wenn es keine alternativen Möglichkeiten gibt.

Als Richtlinie gilt dabei das ethische Prinzip der «3R»: Replace (einen Tierversuch durch eine andere Methode ersetzen), Reduce (so viele Versuche wie nötig, so wenige wie möglich) und Refine (die Belastung der Versuchstiere minimieren). Dank dieser Normen konnten die Tierversuche zwischen 1980 und 1990 halbiert werden. Doch seit 20 Jahren ist die Zahl der Tierversuche praktisch konstant geblieben.

Jedes Jahr wird in der Schweiz mehr als eine halbe Million Wirbeltiere im Rahmen von Tierversuchen eingesetzt. Etwa 40% der Fälle betreffen jedoch Praktiken mit einem Schweregrad 0, d.h. solche, die keine Leiden, Verletzungen oder Ängste erzeugen.

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Trotz aller berechtigten Kritik durch Tierschützer werden Versuche an lebenden Tieren weltweit weiterhin als notwendig erachtet, um die Sicherheit der menschlichen Spezies zu garantieren. Auch in der Schweiz müssen beispielsweise neue therapeutische oder chemische Produkte an lebenden Organismen getestet werden, um sicherzugehen, dass sie keine negativen Auswirkungen auf den Menschen haben.

Ein Grossteil dieser Tests könnte jedoch mit dem Einsatz der wirbellosen Fadenwürmer durchgeführt werden. Diese werden nicht als Tiere klassifiziert, die Schmerzen empfinden.

Der Biologe Laurent Mouchrioud erklärt die Gründe: «C. elegans erscheint als extrem einfacher Organismus, doch diese Wesen ermöglichen Antworten auf fundamentale Fragen, die in der lebendigen Materie enthalten sind und sich in allen Organismen der Erde finden. Dieser Wurm verfügt über nur 959 Zellen, ist aber dem Menschen in genetischer und molekularer Hinsicht sehr ähnlich. 60 bis 70% seines Genoms stimmen mit dem unsrigen überein. Damit stellt dieser Wurm ein perfektes biologisches Modell dar, um komplexe Sachverhalte zu untersuchen.»

Vorteile liegen auf der Hand

Mit seinen mikroskopischen Dimensionen und einer Lebensdauer von etwa zwei Wochen bietet der Fadenwurm viele Vorteile gegenüber Experimenten an Wirbeltieren, bei denen es in der Regel Monate oder Jahre dauert, bis die Auswertung der Versuche vorliegt. Zudem sind herkömmliche Tierversuche mit enormen Kosten und umfangreichen Vorsichtsmassnahmen verbunden.

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«Dieser Wurm ist ein nicht-pathogener Organismus. Er lebt hauptsächlich im Boden und ernährt sich von Bodenbakterien. Er ist auch zwitterhaft: Jedes einzelne Individuum ist in der Lage, in vier Tagen mehr als 300 Nachkommen auf selbstbefruchtende Weise zu erzeugen. Innert weniger Tage verfügen wir also über eine grosse Population mit einem homogenen genetischen Profil. Und da dieser Wurm winzig ist, kann er leicht in grossen Mengen in Inkubatoren gelagert werden», hält Mouchiroud fest.

Die Grenzen der Testexperimente mit dem Fadenwurm hängen jedoch damit zusammen, dass die Manipulationen immer noch manuell durchgeführt werden, basierend auf Protokollen, die aus den 1960er-Jahren stammen. Im Jahr 2014 beschlossen Laurent Mouchiroud und Matteo Cornaglia daher, ihr Wissen zu bündeln, um eine Plattform aufzubauen, die in der Lage ist, eine vollständig automatisierte Zucht, Entwicklung und Analyse von Würmern vorzunehmen.

Die Kenntnisse der beiden Wissenschaftler haben sich bestens ergänzt. Der Biologe Mouchiroud war für ein Post-Doc-Studium an die EPFL gekommen, um den Alterungsprozess von Zellen zu untersuchen, während Cornaglia als physikalischer Ingenieur in Lausanne mit einer Arbeit über Mikrosysteme promovierte.

Laurent Mouchiroud
Laurent Mouchiroud zeigt einen Prototypen der von Nagi Bioscience entwickelten Maschine für gross angelegte Experimente mit C. elegans. RTS-SWI

Aus der Zusammenarbeit der beiden Wissenschaftler entstand in Lausanne das Start-Up-Unternehmen «Nagi Bioscience»Externer Link. Das Ziel dieses Unternehmens ist es, das eigene System weltweit für Recherchen zur Verfügung zu stellen. «Dank unserer Technologie braucht es keine Leute mehr, welche jeden einzelnen Fadenwurm grossziehen und unter ein Mikroskop halten.

Die Fadenwürmer werden in Mikrofluidikkammern eingekapselt, wo sie automatisch von der Vorrichtung gespeist werden. Diese ist zugleich in der Lage, ihnen kontrolliert und in der gleichen Konzentration medizinische oder toxische Substanzen zuzuführen», sagt Matteo Cornaglia.

Überwachung in Echtzeit

Gemäss dem jungen Wissenschaftler erlaubt diese Versuchsanlage, die wissenschaftlichen Experimente zu vereinheitlichen und die Fallzahl zu erhöhen.

«Wir können die Versuchsbedingungen einheitlich regulieren, etwa in Bezug auf die Ernährung und das Wachstum, und zugleich bis zu 90 Substanzen parallel mit dieser Vorrichtung testen – das wäre in einem manuellen Betrieb unmöglich. Zudem können wir in Echtzeit oder in einem ‹time-lap›, d.h. periodisch, die Mikrofluidikkammern überwachen. Dies erlaubt es, im Laufe eines Experiments die gesamten Informationen eines biologischen Prozesses zu sammeln», erklärt Cornaglia.

Vergleichbare Systeme gibt es bisher nur für die In-vitro-Forschung, mit denen einzelne Zellen analysiert werden. Mit isolierten Zellen ist es jedoch schwierig oder häufig sogar unmöglich, relevante Informationen über die Entwicklung, Vermehrung oder Alterung eines ganzen Organismus zu erhalten.

Damit schliesst das von den beiden jungen Forschern entwickelte Gerät eine Lücke zwischen In-vitro- und In-vivo-Forschung: Es kann wie bei der In-vitro-Forschung gross angelegte Experimente mit einer ausgefeilten Überwachungstechnologie durchführen und gleichzeitig Informationen über einen gesamten Organismus liefern sowie die Verwendung von Wirbeltieren reduzieren. Ein Instrument, das nicht nur für viele Grundlagenforschungslabors, sondern auch für die Pharma-, Biotech-, Chemie- oder Lebensmittelindustrie nützlich sein sollte.

Im Jahr 2017 erhielt Nagi Bioscience den Preis der Stiftung Egon Naef, welche die Forschung an alternativen Methoden zu Tierversuchungen unterstützt. Allerdings bleiben auch im Fall der Fadenwürmer ethische Fragen offen.

«Wir wollen den Personen, die sich um das Wohl der Tiere kümmern, aufzeigen, dass der Einsatz der C. elegans einen Kompromiss darstellt. Es handelt sich um ein Tier, ein lebendes Wesen wie andere, aber die wissenschaftliche Forschung ist so möglich, ohne auf sensiblere Organismen zurückgreifen zu müssen», betont Laurent Mouchiroud.

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(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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