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Sie ging als Touristin und kam als Aktivistin zurück

Karin Scheidegger
Karin Scheidegger im Haus eines Aktivisten. Karin Scheidegger Photography

Die Schweizerin Karin Scheidegger machte Urlaub in Indien, als sie von einer Zementfabrik erfuhr, die ihre Arbeiter zu Hungerlöhnen schuften liess. Sie beschloss, das Leben dieser Menschen mit der Kamera zu dokumentieren. 

«Ich habe nie nach dieser Geschichte gesucht – sie hat mich gefunden», sagt Karin Scheidegger heute und berichtet, wie alles begann.

Es war 2012, als die Schweizer Fotografin erstmals von den Aktivitäten des Schweizer Zementkonzerns LafargeHolcim in Indien erfuhr: In diesem Jahr zeigte das Kunstmuseum Bern eine umstrittene Ausstellung zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens.

«Eine Werbeagentur hatte das Konzept ausgearbeitet. Für einige war das nicht viel mehr als Konzernwerbung in einem öffentlich finanzierten Kunstraum», erinnert sich Scheidegger.

Sie plante zu dieser Zeit eine Reise nach Indien, um dort einen Freund zu treffen und bei einer Schweizer NGO zu helfen. Ein Bekannter, der eine wissenschaftliche Arbeit über Bergbau und transnationale Konzerne geschrieben hatte, bat sie, bei dieser Gelegenheit einen Abstecher in den Bundesstaat Chhattisgarh zu machen und dort Fotos von den Dörfern in der Nähe der Zementfabriken zu machen.

«Das war eine gute Gelegenheit für mich», erzählt sie. «Als Fotografin hatte ich immer das Ziel, an interessante Orte zu reisen und spannende Geschichten mit nach Hause zu nehmen.»

Rawan
Die Ambuja-Zementfabrik aus der Distanz. Karin Scheidegger Photography

Seit Jahren fordern Arbeiter in diesen Zementfabriken bessere Anstellungsbedingungen und das Recht, sich gewerkschaftlich organisieren zu können – es ist ein Kampf, der bis heute andauert. Laut Klagen vor indischen Gerichten schuften viele diese Leiharbeiter ohne Aussicht auf einen festen Vertrag oder ein volles Gehalt. Sie verdienen rund ein Drittel der Löhne der Festangestellten und sind zudem über Drittfirmen angestellt, denen sie einen Anteil ihrer Einkünfte abgeben müssen.

Die Zementwerke, die in den Arbeitskampf verwickelt sind, gehörten ursprünglich den indischen Unternehmen ACC in Jamul und Ambuja Cement in Rawan. LafargeHolcim ist Mehrheitsaktionär bei Ambuja Cement – dieser Konzern wiederum ist Mehrheitsaktionär bei ACC.

Protest
Der Arbeiterführer und Dichter Kaladas Deharia bei einer Arbeiterkundgebung. Picturemaker Photography – Karin Scheidegger

Paranoia in der Bevölkerung

Als Karin Scheidegger in Indien ankam, gelang es ihr dank den Gewerkschaften Unia und Solifonds, welche die Kampagne der Arbeiter unterstützten, Kontakte zu lokalen Aktivisten zu knüpfen. Sie wusste aber nicht, dass die Region zu den gefährlichsten des Landes gehörte.

Bei einem bewaffneten Konflikt zwischen einer Gruppe, die sich selbst als «Maoisten» bezeichnete, und der Regierung waren im Süden des Bundestaates Hunderte Menschen getötet worden. Die Behörden waren misstrauisch gegenüber Protestbewegungen, und Interessengruppen nutzten dieses Misstrauen, indem sie Aktivisten als Sympathisanten der Maoisten brandmarkten.

«Ich war schon etwas naiv. Ich wusste zwar, dass es dort einen Konflikt gab und die Gegend besonders für Journalisten gefährlich war, aber ich wollte ja nur einige Fotos machen», sagt Scheidegger rückblickend.

Aktivisten
Scheidegger mit dem Gewerkschaftsführer und Dichter Kaladas Deharia und der Anwältin Sudha Bharadwaj. Sie vertrat den Fall der Leiharbeiter vor indischen Gerichten, sitzt aber seit 2018 wegen angeblicher Verbindungen zu verbotenen Gruppen im Gefängnis. Picturemaker Photography – Karin Scheidegger

Ihre erste Erfahrung mit der Paranoia der Einheimischen machte sie beim Besuch eines Arbeitermarktes in der Industriestadt Bhilai. Dort versammelten sich Menschen auf der Suche nach Jobs. Als Ausländerin erregte Scheidegger viel Aufmerksamkeit. Eine Frau sprach sie an und wollte wissen, was sie suchte.

«Eine Stunde später kam die Polizei und befragte uns. Später erfuhr ich, dass die Frau ein sogenannter Mukhbir war – ein Polizeispitzel.» Trotzdem konnte Scheidegger mehrere Aktivisten treffen, darunter solche, die auf der Flucht waren, weil sie Proteste organisiert hatten und deshalb kriminalisiert worden waren.

Marktszene
Billige Arbeitskräfte findet man auf dem Arbeitermarkt in Bhilai. Picturemaker Photography – Karin Scheidegger

Konfrontation 

Am frühen Morgen des 17. April 2013 machten sich Scheidegger und ihr lokaler Kontakt Ajay T.G. schliesslich auf den Weg zur Ambuja-Zementfabrik, an der LafargeHolcim beteiligt ist. Sie wollte das schöne Licht der «blauen Stunde» nutzen, um Fotos vom Schichtwechsel der Arbeiter zu machen.

Als ihr Wagen am Haupttor des Werks vorbeifuhr, fiel ihr Blick auf ein Schild. Darauf stand: «Ambuja Cement heisst Sie herzlich willkommen zu einem sicheren und angenehmen Besuch». «Ich fand das ziemlich zynisch, weil ich von den vielen Todesfällen in der Fabrik wusste», sagt Scheidegger.

Eingang Ambuja
Der Eingang zum Ambuja-Zementwerk in Rawan. Karin Scheidegger Photography

Sie stieg aus, wurde aber rasch von Sicherheitsleuten angehalten. Diese forderten die Fotografin und ihren Begleiter auf, das Gelände zu verlassen. «Ich wusste nicht, dass ich mich in einer unsichtbaren No-Go-Zone befand», sagt Scheidegger. Diese diente dazu, protestierende Dorfbewohner in Schach zu halten. Seit Protesten der Arbeiter hatte die Firma ihre Fabriken stärker abgeriegelt.

Also verliessen sie und Ajay die Umgebung, um Fotos von der Fabrik aus der Ferne zu machen. Doch die Sicherheitskräfte folgten ihnen und wurden zunehmend aggressiv. Zwei Wachen auf einem Motorrad fuhren heran, stiegen ab und begannen, auf Ajay einzuprügeln.

«Er wurde geschlagen, seine Lippe blutete und sein Hemd wurde zerrissen. Ich fühlte mich verantwortlich, da ich die Fotos gemacht hatte. Mich ignorierten die Wachen gänzlich», sagt Scheidegger.

Nach dem Vorfall gingen sie zur örtlichen Polizeistation, um Anzeige gegen das Wachpersonal zu erstatten. Die Polizei, so Scheidegger, sei zunächst zurückhaltend gewesen, habe aber schliesslich kooperiert, als Journalisten, die von der Auseinandersetzung erfahren hatten, auf der Polizeiwache eintrafen.

Scheidegger trat schliesslich im Lokalfernsehen auf, wo sie ihre Sicht der Dinge schilderte. Die Polizei habe behauptet, sie sei von Aktivisten benutzt worden, um auf deren Anliegen aufmerksam zu machen, sagt Scheidegger. «Aber so war es nicht.»

Karin Scheidegger im TV
Scheidegger kam nach ihrer Auseinandersetzung mit dem Sicherheitspersonal der Zementfabrik in die Nachrichten eines lokalen Fernsehsenders. Karin Scheidegger

Als sie sich in der Schweiz bei der Geschäftsleitung von Holcim beschwerte, hielt sich diese an die Version des Sicherheitspersonals: Dieses behauptete, Scheidegger und ihr Begleiter hätten versucht, über die Fabrikmauer zu klettern und das Gelände zu betreten.

«Der Sicherheitsdienst forderte die Eindringlinge auf, ihre Aktivitäten einzustellen. Es wurde keine Gewalt ausgeübt», heisst es in einem Brief von Holcim vom Mai 2013, der die Geschehnisse aus Sicht der Ambuja-Fabrikleitung zusammenfasst.

Scheidegger sagt, dass Ajay seine Beschwerde zurückgezogen habe, damit im Gegenzug das Unternehmen seine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs fallen liess. «Am Ende geschah gar nichts, ja es wirkte so, als wäre das Ganze gar nie passiert», sagt Scheidegger.

Mehr

Die Einreise verweigert

Trotz des brutalen Zusammenstosses mit den Sicherheitskräften reiste Scheidegger 2014 erneut nach Indien und nahm sogar an einem Protestmarsch in Bhilai mit Mitgliedern der Arbeitergewerkschaft Pragatisheel Cement Shramik Sangh teil. Ein Bild, das sie während der Demonstration zeigt, erschien in einer Zeitung.

«Ich versuchte nicht, meine Anwesenheit zu verbergen und hatte auch nicht das Gefühl, dass ich in der Gegend unentdeckt bleiben sollte», sagt Scheidegger.

Protest
Eine Kundgebung von Arbeitern und Bauern, an der Scheidegger teilnahm. Picturemaker Photography – Karin Scheidegger

Doch ihre Aktivitäten riefen die Behörden auf den Plan. Als Scheidegger den Bundestaat verliess, um in den Himalaya zu fahren, erhielt sie Anrufe von Aktivisten, die sagten, dass die Ausländerbehörde in Delhi angerufen und nach ihr gefragt habe. Die Polizei erkundigte sich zudem in dem Hotel, in dem sie übernachtet hatte, und stattete ihrem Freund einen Besuch ab, der im Visumsantrag als Kontaktperson angegeben war.

Im Jahr 2016 wollte Scheidegger ihr dokumentarisches Projekt zur Arbeiterbewegung in Chhattisgarh fortsetzen. Zwei Wochen vor ihrer Reise wurde sie jedoch von der indischen Botschaft in Bern kontaktiert. «Sie riefen mich an und sagten, ich könne meinen Pass abholen, aber ich bekäme kein Visum», sagt sie.

Scheidegger glaubt, dass sie für ihre Arbeit bestraft wurde – die Behörden wollten nicht, dass Menschen im Ausland von den Zuständen in den Fabriken erfuhren. Swissinfo.ch bat die indische Botschaft um eine Stellungnahme zur Visumsverweigerung und dem möglichen Einreiseverbot, doch erhielt keine Antwort.

Reiches Land, arme Menschen

Das Einreiseverbot sei ein herber Schlag gewesen, sagt Scheidegger. Zugleich motivierte es sie, etwas mit ihren Fotos aus Chhattisgarh zu machen. Sie stellte schliesslich ein deutschsprachiges Magazin zusammen und veröffentlichte dieses im vergangenen September. Es trägt den Titel «Rich Lands of Poor People» und dokumentiert die trostlose, paradoxe Situation vieler Menschen in Chhattisgarh.

«Meine Idee war, ein Magazin zu kreieren, das optisch ansprechend war, so wie die Zeitschriften, die man beim Friseur liest, wenn man wartet. Erst beim Lesen merkt man, dass der Inhalt sehr ernst ist», sagt sie.

Familie
Scheidegger nutzte ihre Erfahrung in der Porträtfotografie, um das häusliche Leben von Fabrikarbeitern und Arbeiteraktivisten einzufangen. Karin Scheidegger Photography

Nach jahrzehntelangem Kampf errangen die Arbeiter in Indien schliesslich einen grossen Sieg: 2016 wurde mit LafargeHolcim eine Einigung über das Schicksal von fast 1000 Leiharbeitern erzielt, die im Zementwerk Jamul in Chhattisgarh schufteten. Aber laut Scheidegger ist die Situation der Arbeiter im benachbarten Rawan immer noch katastrophal, und die Gründung von Gewerkschaften werde immer noch aktiv verhindert.

LafargeHolcim sieht das anders. «Diese Anschuldigung ist unbegründet», liess ein Firmenvertreter per E-Mail verlauten. «Im Werk Bhatapara in Rawan gibt es eine Gewerkschaft, die AITUC, welche von den Arbeitern unterstützt wird. Bis heute hat die Werksleitung gute Beziehungen zu ihr und pflegt einen offenen und fairen Dialog.»

Nach Indien reisen konnte sie nicht mehr, doch Scheidegger ist froh, dass sie zumindest die Geschichten, die sie auf ihren Reisen durch das Land erfahren hat, einem breiteren Publikum zugänglich machen konnte. «Es geht bei meinem Projekt nicht um Holcim, sondern einfach um die Menschen, die in der Nähe dieser Zementfabriken ein schwieriges Leben führen», sagt sie.

Indisches Mädchen
Pragati Sahu, Tochter des Gewerkschaftsaktivisten Lakhan Sahu, posiert für ein improvisiertes Doppelporträt in Bilaspur, Chhattisgarh. Picturemaker Photography – Karin Scheidegger

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