Fragezeichen hinter Innovation als Treibkraft
Die Schweiz gilt als hoch innovativ. Als Gründe für dieses "helvetische Wunder" gelten Kreativität, attraktives Arbeitsumfeld und ein hochstehendes Bildungssystem. Nur: Mehrwert entsteht auch gerade dort, wo es Wirtschaftsfachleute nicht erwarten.
Die Schweizer Wirtschaft ist zu permanenten Innovationen gezwungen, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können. Dieses Mantra gilt insbesondere für die Exportindustrie, die zusammen mit dem Binnenkonsum und der Bauwirtschaft der Motor der Schweizer Wirtschaft darstellt.
Gerade in Zeiten von Schuldenkrise und immer stärkerem Aufkommen der asiatischen Konkurrenz nehmen Politiker und Wirtschaftsexperten diese Weisheit gern in den Mund.
Innovation sei das einzige Mittel für die Schweiz, um nachhaltig wachsen zu können, heisst es in einem Bericht von economiesuisse, den der Dachverband der Schweizer Wirtschaft im Mai vorlegte.
«Innovationen von heute sind die Arbeitsplätze von morgen», doppelt Philippe Leuba, Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Waadt, nach. Die Schweiz müsse ihre Spitzenposition in Sachen Fortschritt halten, um den langfristigen Erfolg ihrer Wirtschaft zu sichern. Leuba stellte einen Topf von 25 Mio. Franken bereit, um die Waadt zum «Schweizer Innovationsmeister» zu trimmen.
Überlebenswichtig
Geht es um Innovation, sitzen Wirtschaftspolitiker, Unternehmer und Gewerkschaften im selben Boot. «Um überleben zu können, hat unsere Wirtschaft keine andere Wahl, als innovativ zu sein», sagt Jean-Christophe Schwaab, Gewerkschaftssekretär und Nationalrat der sozialdemokratischen Partei. Sie müsse insbesondere auf qualitativ hochstehende Nischenprodukte setzen. «Dies ist der einzige Weg, um eine Produktion mit hoher Wertschöpfung aufrecht zu erhalten.»
Vom Silicon Valley inspiriert, hat vor über zehn Jahren ein Standort-Wettbewerb um die Ansiedelung innovativer Kleinunternehmen eingesetzt. Dies besonders in Sparten wie den Life Sciences oder grüne Technologien. Der Kanton Waadt besitzt gute Karten, mit der ETH Lausanne als Schnittstelle zwischen Forschung und Industrie.
Innovation gelte seit einigen Jahren als «absolutes Paradigma von Wettbewerbsfähigkeit», konstatiert Hugues Jeannerat, Ökonom an der Universität Neuenburg. Dieses Leitmuster spiegle «den Glauben an einen idealen Fortschritt von Technik und Wissenschaften.» Die Frage nach dem ökonomischen und sozialen Nutzen von Innovation sei aber nie wirklich gestellt worden, gibt Jeannerat zu Bedenken, der in seiner Doktorarbeit untersuchte, wie die Schweizer Uhrenindustrie Mehrwert schafft.
Die regelmässigen Spitzenplätze der Schweiz in den internationalen Innovations-Vergleichen erklärt er mit der hohen Zahl von Patenten, welche die Pharmaindustrie hinterlegt hat.
«Aber ein Patent bedeutet nicht unbedingt eine sofortige Verbesserung in unserem Alltag. Ein Patent kann auch zur Verhinderung einer Entwicklung durch die Konkurrenz verwendet werden oder auch zur Steigerung des Börsenwerts eines Unternehmens», sagt der Wissenschaftler.
Tradition
economiesuisse erinnert daran, dass in der Schweiz knapp drei Viertel (73%) der Forschungsgelder aus der Privatwirtschaft kommen und nicht vom Staat. Wie innovativ ein Unternehmen ist, hängt laut dem Dachverband von zwei Schlüsselfaktoren ab: dem Unternehmergeist und der «Innovations-Tradition» der Firma. «Diese Feststellung widerspricht der weitverbreiteten Meinung, dass in der Schweiz die Startups am innovativsten sind», schreibt economiesuisse.
In der Schweiz spriessen immer noch Gründerzentren aus dem Boden. Sie werden an der Anzahl Unternehmen gemessen, die aus ihnen hervorgehen. «Dieses Instrument wurde weitgehend durch die Kantone auf Grundlage der Regionalpolitik des Bundes entwickelt. Es ist der Konsens, dass Gründerzentren der beste Ausgangspunkt für Innovationen sind», so Hugues Jeannerat.
Eine Folge dieser öffentlichen Politik sei aber, dass Innovation nur unter dem Aspekt des technologischen Fortschritts gesehen werde. Innovation aber müsse in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden. Es spielten auch Faktoren mit, die laut dem Forscher oft kaum quantifizierbar , aber dennoch zentral sind.
«Der Erfolg der Uhrenindustrie, aber auch derjenige von Käse und Schokolade aus der Schweiz, ist ohne eine solche, weiter gefasste Definition von Innovation nicht erklärbar», sagt Hugues Jeannerat.
«Mächtige Marketing-Abteilungen, aber auch Journalisten, Historiker und Hochglanz-Magazine, die sich unter der Kontrolle von Uhrenherstellern befinden, transportieren ganze Register von Symbolen. So werden Authentizität und Tradition der Produkte und der Marken verkauft. Darin liegt die ganze Innovation der Uhrenindustrie», so Jeannerat.
«Man muss innerhalb der Tradition innovativ sein!», sagt Gewerkschaftssekretär Jean-Christophe Schwaab. «Traditionen verändern sich, man muss versuchen, sie stets attraktiv zu halten.»
Zum zweiten Mal in Folge belegt die Schweiz im weltweiten Innovations-Ranking Platz 1. Die Rangliste wird vom renommierten Europäischen Wirtschaftsinstitut (Insead) und der Weltorganisation des Geistigen Eigentums (OMPI) erstellt.
Die Autoren streichen das duale Bildungssystem , die enge Zusammenarbeit von öffentlichem und privatem Sektor sowie die attraktiven Arbeitsbedingungen als wichtigste Pluspunkte der Schweiz hervor.
Die Schweiz belegt ebenfalls Rang 1 in der Rangliste des WEF der wettbewerbsfähigsten Länder. Kriterien hier sind technologische Kapazität, Funktionstüchtigkeit des Arbeitsmarktes, Anzahl führende wissenschaftliche Forschungsinstitute oder die Anzahl der hinterlegten Patente.
Gemäss Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wird dann von Innovation gesprochen, wenn eine solche in ein Produkt oder einen Prozess einfliesst, die es auf den Markt schaffen. Im Vordergrund der Neuerung steht also der wirtschaftliche Nutzen.
Innovationsförderung geschieht in der Schweiz in erster Linie durch die Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen. Die Bundesbehörde setzt dabei voll auf das liberale Instrument des Wettbewerbs.
Dazu müssen Unternehmen über sehr gut ausgebildetes Personal verfügen, als Garant für eine «überdurchschnittliche Arbeitsproduktivität und eine gesteigerte Innovation».
Daher ist Aufgabe des Staates, eine hochrangige öffentliche Bildung anzubieten. Dafür will die Schweizer Regierung in den Jahren 2013-2016 insgesamt 26 Milliarden Franken bereitstellen.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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