Schweizer Presse: Die Wahl ist auch ein Plebiszit über die EU
"Denkzettel gegen Etablierte", "Ein halber Aufstand gegen die Elite", "Ein bisschen Revolution". Die Schweizer Medien sind sich einig: Dass Marine Le Pen und Emmanuel Macron im ersten Wahlgang die Kandidaten der etablierten Parteien aus dem Rennen warfen, müsse ganz Europa zu denken geben. In der Stichwahl vom 7. Mai werden sich eine Ultranationalistin und ein Proeuropäer gegenüber stehen.
Das erwartete politische Erdbeben ist eingetreten: Zum ersten Mal seit Bestehen der Fünften Republik hat keiner der Kandidaten der staatstragenden Parteien den Einzug in die Stichwahl geschafft. Im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen erreichten der Konservative François Fillon und der Linke Jean-Luc Mélenchon nur knapp 20%, der Sozialist Benoît Hamon lediglich 6,3%. Alle drei scheiden aus dem Rennen um die französische Präsidentschaft aus. In die Stichwahl schaften es hingegen der Parteilose Emmanuel Macron von der neuen Bewegung «En Marche!» (Vorwärts!) mit knapp 24% der Stimmen und Marine Le Pen vom Front National mit fast 21,4%.
Für die italienischsprachige La Regione wird Europa mit einem Wahlsieg Macrons gestärkt aus den französischen Wahlen gehen. Aber die Pro-Europäer hätten keinen Grund, den Champagner zu entkorken. Die Wähler der zweitgrössten Kontinentalmacht hätten ihre Besorgnis über die Zukunft des Landes und der EU zum Ausdruck gebracht: hier die anti-europäischen (Le Pen und Mélenchon) und dort die pro-europäischen (Macron und Fillon) hätten von den Wählern fast gleichviel Unterstützung bekommen.
«Brüssel und Berlin können vermutlich aufatmen, aber es wäre unverantwortlich, die Alarmglocken eines unruhigen und desorientierten Frankreichs nicht zu hören.»
Dass die Republikaner und die Sozialisten beide im ersten Wahlgang ausschieden, bezeichnen die grössten Westschweizer Tageszeitungen als einmalig. Die Franzosen hätten bestätigt, dass die Welle der Unzufriedenheit, die sie seit Jahren nährten, am Wahltag nicht weich und folgenlos am Ufer brechen werde, schreibt Le Temps. Was am Sonntag zum Ausdruck gekommen sei, «ist die Wut gegen die traditionellen Parteien, die Desillusion gegenüber korrupten Politikern und der Wille, etwas anderes zu versuchen.» Die beiden Sieger des ersten Wahlgangs repräsentierten Bewegungen, die noch nie regiert hätten, so die Westschweizer Zeitung.
Hier die Rechtsextreme…
«Im nun folgenden zweiwöchigen Wahlkampf werden zwei Programmentwürfe aufeinanderprallen, die unterschiedlicher nicht sein könnten», analysiert die Luzerner Zeitung: «Hier ein Proeuropäer aus der Pariser Elite mit einem eher vagen Programm und einem weltoffenen Ansatz, dort eine EU-Gegnerin, die sich als Aussenseiterin des Systems gibt und die Grenzen für Immigranten schliessen und Freihandelsverträge kündigen will.»
Die Präsidentenwahl in Frankreich werde zum Plebiszit über die Europäische Union», kommentiert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) unter dem Titel «Der Nette und das Biest». Das EU-Thema habe auch die Diskussion im Wahlkampf über weite Strecken dominiert. «Die Immigration von Arbeitskräften und die Auslagerung von Arbeitsplätzen im Zeichen von EU-Binnenmarkt und Globalisierung sind für viele Franzosen, nicht nur für Arbeitslose und sogenannte Modernisierungsverlierer, ein brennendes Thema.»
Die Ultranationalistin Marine Le Pen sei eine Frau des klaren Profils. Auch wenn sie behaupte, sie sei weder rechts noch links, so vertrete sie doch eine rechtsextrem geprägte politische Grundhaltung: Der starke Staat befehle, die Bürger hätten zu gehorchen. Für Freiheit und Eigenverantwortung sei wenig Raum. «Doch für ihre Anhänger ist Le Pen die Führerin, die das Land aus der Krise reisst und zu neuer Grösse bringt – dass damit viel eher der Staatsbankrott droht, verdrängen allzu viele», kommentiert die NZZ.
…dort der Brückenbauer
Auch der Zürcher Tages-Anzeiger und der Berner Bund glauben, einen Verdruss der französischen Wählerschaft gegenüber der etablierten Politik zu erkennen: «Die Unzufriedenheit mit den ökonomischen und sozialen Zuständen, den Zorn über all jene Widrigkeiten, die man mit dem Begriff ‹le malaise français› zu umschreiben pflegt.» Trotzdem, halten die beiden Zeitungen in ihrem gemeinsamen Kommentar fest, hätten die Stimmbürger mit Macron einen Kandidaten in die Favoritenrolle versetzt, der von seiner Herkunft und Biographie her ein typischer Exponent des Establishments sei – und der ein politisches Programm vertrete, das mit seinen wirtschaftsliberalen, aber sozialstaatlich abgefederten Reformversprechen alles andere als revolutionär daher komme.
«Macrons Anziehungskraft liegt in seiner Jugendlichkeit, in der Dynamik seiner binnen kürzester Zeit geschaffenen Bewegung ‹En marche!›. Der 39-Jährige repräsentiert weder den radikalen Bruch mit dem Bestehenden noch den Sprung in die Irrationalität. Sein Kapital besteht vorderhand im reichlich schwammigen Versprechen, den Gegensatz zwischen links und rechts zu überwinden und das abgestandene System irgendwie zu erneuern. Das ist nicht gerade berauschend – aber immer noch tausendmal besser als die abstrusen politischen und ökonomischen Visionen seiner Gegnerin Marine Le Pen», kommentieren die beiden Zeitungen.
Wahrscheinlich Macron…
Weil die meisten Wahlverlierer am Sonntagabend dazu aufriefen, im zweiten Wahlgang für den gemässigten Kandidaten zu stimmen, um die Ultranationalistin zu verhindern, rechnen viele Kommentatoren mit Macron als neuen Präsidenten Frankreichs.
Für die Freiburger La Liberté wäre es eine Riesenüberraschung, wenn am 7. Mai nicht Emmanuel Macron zum Nachfolger Hollandes gewählt würde. «Und dies nach nur einem Jahr seit der Lancierung der neuen Bewegung aus dem Nichts.» Diese Leistung sei einmalig in der Geschichte der Fünften Republik, aber auch auf europäischer Ebene. Der ambitionierte junge Mann «ziehe [den Revolver] schneller als sein Schatten». Sogar der amtierende Präsident François Hollande, der sich vom waghalsigen Macron habe täuschen lassen, habe zugeben müssen, dass ihn sein ehemaliger Wirtschaftsminister mit System verraten habe.
…aber nichts ist unmöglich
«Der erst 39-jährige Ex-Wirtschaftsminister liess sich am Wahlabend von begeisterten Anhängern bereits wie ein Präsident feiern. Er präsentierte sich als Mann des ‹Volkes› und der ‹Patrioten›, sichtlich bemüht, diese Ausdrücke nicht seiner Gegnerin zu überlassen. Beide Kandidaten erklärten fast unisono, sie verkörperten eine wirkliche Wende mit neuen Köpfen», schreibt die Aargauer Zeitung.
Macron sei zwar auf dem Papier im Vorteil, meint auch die Luzerner Zeitung, aber «Frankreichs Wähler sind zu volatil, zu verunsichert und vor allem zu wütend, als dass man sich des Wahlausgangs sicher sein könnte. Sicher ist nur, dass die von Charles de Gaulle 1958 gegründete Fünfte Republik in ihren Grundfesten erschüttert ist. Denn eines haben Macron und Le Pen gemein: Sie stehen ausserhalb der beiden politischen Lager, die das politische Leben in Frankreich seit 60 Jahren untereinander ausgemacht haben. Die Konservativen und die Sozialisten sind am Boden.»
Grenznahe Franzosen für Le Pen
Die Kandidatin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, hat sich in fünf Départements, die an die Schweiz grenzen, den Sieg gesichert. Das sechste Wahlgebiet entschied François Fillon für sich.
Le Pen holte in den Départements Ain, Jura, Doubs, Territoire de Belfort und Haut-Rhin die meisten Stimmen, wie aus Zahlen des französischen Innenministeriums hervorgeht. Einzig in Haute-Savoie südlich von Genf gewann der konservative Fillon. Dort wurde Le Pen Dritte. Der parteilose Emmanuel Macron landete in fünf der sechs Départements auf dem zweiten Platz. In Haut-Rhin wurde der Kandidat der Bewegung «En Marche!» Dritter – hinter Fillon.
(Quelle: sda)
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