Macron-Berset: Keine Vorzugsbehandlung zu erwarten
Alain Berset reist am Mittwoch zu einem Treffen mit seinem Amtskollegen Emmanuel Macron nach Paris. Trotz seiner Sympathie für die Schweiz sollte man vom französischen Präsidenten im Europa-Dossier keine Zugeständnisse erwarten, schätzt Gilbert Casasus, Politologe und Professor für Europa-Studien an der Universität Freiburg.
swissinfo.ch: In welchem Kontext spielt sich dieses zweite französisch-schweizerische Gipfeltreffen – Bundespräsidentin Doris Leuthard hatte ihn im Juli 2017 getroffen – seit der Wahl Macrons im Mai 2017 zum Präsidenten ab?
Gilbert Casasus: Nach der Ära Sarkozy (2007-2012), die für die Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz sehr schlecht gewesen war, kam es in den fünf folgenden Jahren unter François Hollande (2012-2017) zu einer deutlichen Verbesserung. Höhepunkt dieser erneuerten Freundschaft war die offizielle Reise von François Hollande in die Schweiz im April 2015. Und seit seinem Amtsantritt hat Emmanuel Macron diesen positiven Schwung beibehalten, mit sehr häufigen und konstruktiven offiziellen Kontakten zwischen den beiden Ländern.
«Wenn es einen Bereich gibt, in dem Macron nicht nachgeben wird, ist es Europa!»
Anfang Jahr, im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in Davos, hatte Emmanuel Macron die Schweizer Regierung allerdings ziemlich verärgert, als er ihr Verhalten bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union (EU) als Rosinenpickerei («cherry picking») bezeichnete. Ist Macron wirklich dieser gute Freund der Schweiz, den einige bei seiner Wahl sehen wollten?
Für Emmanuel Macron bedeutet pro-europäisch nicht, gegen die Schweiz zu sein. Seine Aussage zum «cherry picking» sollte wie folgt verstanden werden: ‹Europa ist für uns eine Priorität. Wollen Sie eine gute bilaterale Beziehung, müssen Sie unsere pro-europäische Position akzeptieren.› Wahrscheinlich wird er dies gegenüber Alain Berset am Dienstag erneut bekräftigen.
Emmanuel Macron befindet sich nach der Sommerpause politisch in einer extrem schwierigen Phase: Er muss den Rücktritt mehrerer seiner Minister verkraften, und seine Popularität ist so niedrig wie noch nie. Die Europa-Wahlen von 2019 werden für ihn und seine junge Partei «La République en Marche» ein ausschlaggebendes Ereignis sein. Und wenn es einen Bereich gibt, in dem er nicht nachgeben wird, ist es Europa.
Die grösste Herausforderung für die Schweiz ist derzeit die Unterzeichnung eines institutionellen Rahmenabkommens mit der EU. Welche Position nimmt Emmanuel Macron in diesem Bereich ein?
Die französische Position entspricht in jeder Hinsicht der Position, welche die EU-Kommission vertritt. Emmanuel Macron will mit der Schweiz ein solides Abkommen abschliessen. Von Frankreich sind keine Abweichungen oder Ausnahmen zu erwarten.
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Innerhalb der EU steht Emmanuel Macron heute isoliert da. Läge es angesichts des Anstiegs der Euroskeptiker nicht in seinem Interesse, jegliche Krise mit einem so wichtigen Drittstaat wie der Schweiz zu vermeiden und eine möglichst pragmatische Lösung zu finden?
Gerade da er innerhalb der EU selbst bereits im Kreuzfeuer von Salvini (Italien) und Orban (Ungarn) steht, hat Emmanuel Macron nicht das geringste Interesse, Druck von aussen nachzugeben, wenn er seinen europäischen Kurs beibehalten will. Die Schweizer Regierung – und insbesondere ihr Aussenminister Ignazio Cassis – begeht einen schweren Fehler, wenn sie sich vorstellt, dass die Eidgenossenschaft Anspruch hätte auf eine Sonderbehandlung oder auf ein Abkommen mit Abstrichen.
Die EU – und damit ihr leidenschaftlichster Verfechter, Emmanuel Macron – wird der Schweiz zu einem Zeitpunkt, in dem sie gegenüber Grossbritannien eine äusserst harte und unflexible Haltung vertritt, kein Geschenk machen. Erinnern wir daran, dass der EU-Chefunterhändler für den Brexit kein anderer ist als der Franzose Michel Barnier, der die volle Unterstützung Emmanuel Macrons geniesst.
«Die Schweizer Regierung begeht einen schweren Fehler, wenn sie sich vorstellt, dass die Eidgenossenschaft Anspruch hätte auf eine Sonderbehandlung oder auf ein Abkommen mit Abstrichen.»
Welche anderen wichtigen Themen werden bei dem Gipfeltreffen zur Sprache kommen?
Der Kauf eines neuen Kampfflugzeugs für die Schweizer Armee wird der eigentliche Schwerpunkt dieses Treffens zwischen Emmanuel Macron und Alain Berset sein. Für Frankreich, das mit dem Kampfjet Rafale des Herstellers Dassault im Rennen liegt, ist dies ein sehr wichtiges Dossier. Der Beweis dafür ist das jüngst eröffnete Verbindungsbüro von Dassault in Bern.
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Auf wirtschaftlicher Ebene steht natürlich äusserst viel auf dem Spiel, denn es geht um einen Auftrag in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Auch auf politischer und symbolischer Ebene ist das Thema bedeutend. Falls die Schweiz ein angelsächsisches oder amerikanisches Flugzeug bevorzugen würde, wäre dies ein Signal, das in Frankreich und in der EU schlecht ankommen würde.
Könnte die neue Regelung zur Entschädigung von arbeitslosen Grenzgängern zwischen Emmanuel Macron und Alain Berset zu einem Zankapfel werden?
Das ist möglich. Aber ganz allgemein ist es die Infragestellung der Personenfreizügigkeit, welche die beiden Staatsoberhäupter beunruhigt. Denn man muss daran erinnern, dass der freie Personenverkehr nicht nur von Vorteil für Frankreich ist: Schweizer Unternehmen profitieren auch stark von den mehr als 170’000 Grenzgängern, die jeden Tag zur Arbeit in die Schweiz kommen. So würde es zum Beispiel der Schweizer Uhrenindustrie schwer fallen, ohne die Kohorte der im französischen Jura ausgebildeten Techniker zu existieren.
«Der Kauf eines neuen Kampfflugzeugs für die Schweizer Armee wird der eigentliche Schwerpunkt dieses Treffens zwischen Emmanuel Macron und Alain Berset sein.»
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Dieses Treffen findet wenige Wochen vor Beginn des Prozesses wegen Steuerbetrugs gegen die UBS in Paris statt. Besteht nicht die Gefahr, dass die alten Wunden eines Steuerstreits wieder aufgerissen werden, den Frankreich als beigelegt betrachtet hatte?
Es besteht in der Tat ein Risiko, dass der Prozess gegen die UBS gewisse anti-schweizerische Gefühle wieder hochkommen lassen wird. Dass die Schweiz das Bankgeheimnis aufgegeben hat, ist in Frankreich oft nicht wahrgenommen worden. Auf französischer Seite besteht viel Erklärungsbedarf, um aufzuzeigen, dass wir uns nicht mehr im Kontext der massiven Steuerhinterziehung befinden, die vor 2010 vorherrschte.
Und was die Schweiz angeht, wenn sie endlich das Image des Steuerparadieses ablegen will, das ihr anhängt, muss sie ihre Fehler anerkennen und aufhören, sich immer als Opfer ihrer ‹bösen grossen Nachbarn› darzustellen. Diese Haltung sorgt in Frankreich, aber auch in Deutschland und Italien für viel Irritation.
Um auf einer etwas persönlicheren Ebene abzuschliessen: Alain Berset und Emmanuel Macron sind zwei junge, ehrgeizige und brillante Politiker, die eine pro-europäische Vision teilen und mit Leidenschaft den Multilateralismus verteidigen. Sind sie dazu geschaffen, einander zu verstehen?
Ja, und die Parallelen hören damit noch nicht auf. Alain Berset ist auf Ebene der politischen Ideen absolut Macron-kompatibel und gehört auch zu dieser neuen Generation politischer Persönlichkeiten mit einem sehr grossen Geist der Offenheit.
Zudem sind beide sehr besorgt um das Markenimage ihres Landes im Ausland. Und schliesslich bringt Alain Berset, wie Emmanuel Macron auch, ein grosses Interesse für die Frankophonie und die Verteidigung der französischen Sprache zum Ausdruck, was bei den Schweizer Präsidenten nicht immer der Fall ist.
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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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