Christiane Brunner und Ruth Dreifuss: Das sind zwei Namen, die in vielen Köpfen bis heute nachhallen. Die zwei sozialdemokratischen Politikerinnen stehen für eine umstrittene Bundesratswahl vor 25 Jahren, die in der Schweiz ein kleines politisches Erdbeben auslöste.
Anfang März 1993: Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP) will als Ersatz für den abtretenden René Felber – und nach der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen im Jahr 1983 – endlich eine eigene Bundesrätin. Sie schlägt die Genfer Nationalrätin Christiane Brunner, Gewerkschafterin und Feministin, vor.
Schock in und vor dem Bundeshaus
In den Wochen vor der Bundesratswahl beginnt eine regelrechte Schlammschlacht gegen die SP-Kandidatin. Ein anonymer Brief, in dem von angeblichen Nacktfotos von Christiane Brunner die Rede ist, zieht ihre moralische Integrität in Zweifel.
Am 3. März 1993 wählt die bürgerliche Mehrheit nicht Christiane Brunner, sondern den Neuenburger SP-Nationalrat Francis Matthey. «Ich ahnte natürlich, dass ich nicht gewählt würde und bereitete mich vor: Aufstehen, Matthey die Hand reichen und ihm gratulieren – damit die Emotionen nicht falsch herauskommen», sagt Brunner 25 Jahre nach dieser dramatischen Wahl gegenüber Radio SRF.
«Machen Sie Platz, Monsieur!»
Linke wie bürgerliche Parlamentarierinnen reagieren geschockt auf die Nichtwahl von Christiane Brunner. Von den Zuschauertribünen des Ratssaales ertönt ein gellendes Pfeifkonzert, vor dem Bundeshaus demonstrieren hunderte wutentbrannte Frauen, es fliegen Schneebälle und Farbbeutel gegen das Parlamentsgebäude. Die Berner Stadtpolizei setzt Tränengas ein. Auch in anderen Schweizer Städten kommt es zu spontanen Protest-Kundgebungen und Mahnwachen, tausende Frauen im Land fordern: «Machen Sie Platz, Monsieur!»
«Auch ich war wütend. Die Nichtwahl Christianes war nach der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen eine zweite Beleidigung des Parlaments für die Frauen und auch für meine Partei», sagt Ruth Dreifuss im Gespräch mit SRF. Francis Matthey zieht sich schliesslich auf Druck seiner Partei und der wütenden Frauen zurück.
Um den Bürgerlichen entgegenzukommen, präsentiert die SP eine Woche später ein Zweierticket: Christiane Brunner und Ruth Dreifuss, Sekretärin des Gewerkschaftsbunds. «Es war klar der Wunsch von Matthey, dass man zwei Frauen bringt, damit ich nicht gewählt werde», so Brunner.
Marsch nach Bern
Am Tag der Wahl, dem 10. März, strömen gegen 10’000 Menschen vor das Parlamentsgebäude in Bern, um ihre Unterstützung für Brunner zu manifestieren. Mit Extrazügen waren sie aus der ganzen Schweiz zur bewilligten Kundgebung angereist. Die Wahl wird per Radiolautsprecher direkt auf den Bundesplatz übertragen, wo die Voten entweder mit Applaus oder Pfiffen quittiert werden.
Gewählt wird Ruth Dreifuss. Ihre «Zwillingsschwester» hat das Nachsehen. Dieser sogenannte «Brunner-Effekt» gibt der Schweizer Frauenbewegung der frühen 1990er-Jahre neuen Auftrieb.
Frauen im Bundesrat
1971 wird in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt.
1984 wird die Freisinnige Elisabeth Kopp als erste Frau in den Bundesrat gewählt.
Es folgen die Sozialdemokratin Ruth Dreifuss (1993-2002), die Christdemokratin Ruth Metzler-Arnold (1999-2003), Micheline Calmy-Rey, SP, (2003-2011), Eveline Widmer-Schlumpf, bis 2008 SVP, dann BDP, (2007-2015). Zurzeit sind zwei Frauen im Bundesrat: Doris Leuthard von der CVP (gewählt 2006) und Simonetta Sommaruga von der SP (gewählt 2010).
Meistgelesen Swiss Abroad
Mehr
Diese Schweizer Auswanderer prägten die USA nachhaltig
Wie kann die Monopolisierung der KI durch mächtige Länder und Unternehmen verhindert werden?
KI hat das Potenzial, viele Probleme der Welt zu lösen. Aber die reichsten Länder und Technologieunternehmen könnten versuchen, diese Vorteile zu beanspruchen.
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch
Mehr lesen
Mehr
Doris Leuthard in die Landesregierung gewählt
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Doris Leuthard tritt die Nachfolge des Christlichdemokraten Joseph Deiss an, der per Ende Juli zurücktritt. Am Freitag wird die neue Regierung die Departements-Verteilung vornehmen. Ihre Wahl sei auch ein Entscheid für die jüngere Generation und für die Frauen, sagte die 43-Jährige Bundesrätin nach der Wahl. Sie nehme das als besonderen Auftrag entgegen und werde alle…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Letzte Woche hatte schon der Präsident der CVP, Philippe Stähelin, seinen Rücktritt bekannt gegeben. Brunner war im Oktober 2000 zur Nachfolgerin von Ursula Koch gewählt worden. Bei ihrem Amtsantritt hatte es Brunner mit einer zerstrittenen Partei zu tun. Ihre Hauptaufgabe war es, die innerparteiliche Lage zu beruhigen und sie für den Wahlkampf 2003 fit zu…
Abgang einer Ministerin, die für das Ende des Bankgeheimnisses stehen wird
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Eveline Widmer-Schlumpf, 2007 anstelle von Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt, wird nicht mehr zur Wiederwahl antreten.
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Die Schweizerische Volkspartei kündigte daraufhin an, in die Opposition zu gehen. Sie erachtet die neue Bundesrätin nicht als Vertreterin ihrer Partei. Mit der Annahme der Wahl durch Eveline Widmer-Schlumpf ist Christoph Blocher als Bundesrat definitiv abgewählt. Die Bündner SVP-Regierungsrätin sagte am Donnerstagmorgen vor der Vereinigten Bundesversammlung, das Parlament habe ihr eine grosse Aufgabe übertragen, die…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Im Moment sitzen vier Männer und drei Frauen im in der Landesregierung. Gäbe nach Verkehrsminister Moritz Leuenberger auch noch Finanzminister Hans-Rudolf Merz seinen Rücktritt bekannt, könnten jedoch theoretisch bereits ab nächstem Jahr vier oder fünf Frauen in der Regierung Einsitz nehmen. Für die Nachfolge des Sozialdemokraten Moritz Leuenberger werden vor allem zwei Kandidatinnen gehandelt: Die…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Die Ex-Bundesrätin hatte am Mittwoch in Herisau ihr Buch vorgestellt, in dem sie mit Politik und Partei abrechnete. Die Nicht-Wiederwahl von Ruth Metzler sei die Konsequenz der Parlamentswahlen vom Oktober, sagte CVP-Interimspräsidentin Doris Leuthard in ihrer Abschiedsrede, in der sie die Konkordanz in der Schweiz als «klinisch tot» erklärte. Metzler habe am 10. Dezember freiwillig…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Nach einem 100-jährigen Kampf von Frauenrechtlerinnen gewährten die Schweizer den Frauen am 7. Februar 1971 mit 65,7 Prozent Ja-Stimmen das Stimm- und Wahlrecht. Bis die formale politische Gleichberechtigung der Frauen landesweit verwirklicht war, dauerte es aber noch 20 Jahre. Appenzell Innerrhoden wurde 1990 vom Bundesgericht zum Frauenstimmrecht gezwungen. Am kommenden Mittwoch wird das 30jährige Jubiläum…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Calmy-Rey hat langjährige Regierungs-Erfahrungen im Kanton Genf und gilt als Vertreterin der urbanen und multikulturellen Schweiz. Die Wahlstrategie der Sozialdemokratischen Partei ging auf: Die Vereinigte Bundesversammlung wählte im fünften Wahlgang die 57-jährige Genferin Micheline Calmy-Rey zur Nachfolgerin von Ruth Dreifuss. Calmy-Rey ist das 106. Mitglied des Bundesrates. «Ich werde meine ganze Kraft in den Dienst…
Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht
Niemand erreichte das absolute Mehr. Die beiden SP-Frauen gehen in den fünften Wahlgang. Alles läuft für die Sozialdemokratinnen. Die beiden SP-Kandidatinnen gehen in den fünften Wahlgang. Weiterhin erreichte niemand das absolute Mehr. Micheline Calmy-Rey verbesserte sich an der Spitze weiter. Applaus für Dreifuss Vor dem Wahlprozedere wurde Ruth Dreifuss offiziell verabschiedet: Die Mitglieder der Bundesversammlung…
Ihr Abonnement konnte nicht gespeichert werden. Bitte versuchen Sie es erneut.
Fast fertig... Wir müssen Ihre E-Mail-Adresse bestätigen. Um den Anmeldeprozess zu beenden, klicken Sie bitte den Link in der E-Mail an, die wir Ihnen geschickt haben.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch