Zum Sterben in die Schweiz
Drei Viertel aller Deutschen möchten selbst über ihren Tod bestimmen. Mit der Entscheidung des Bundestags, professionelle Sterbehilfe in Deutschland künftig unter Strafe zu stellen, wird die Chance darauf noch kleiner. Es bleibt die letzte Reise in die Schweiz.
Bitteres Leiden bis zum Ende, ohne Aussicht auf Linderung, das erscheint Anne Schneider sinnlos. Die Ehefrau des ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, erkrankte 2014 an bösartigem Krebs: «Ich hoffe, wenn ich selber an den Punkt kommen sollte, sterben zu wollen, dass mein Mann mich dann in die Schweiz begleitet. Dass er neben mir sitzen und meine Hand halten würde, wenn ich das Gift trinke», bekannte sie in einem Interview mit der ZEIT. Seither sind die Schneiders die prominentesten und persönlichsten Gesichter der deutschen Sterbehilfedebatte. Anne Schneider spricht aus, was viele denken: Wenn mein eigenes Land mir einen selbstbestimmten Tod so schwer macht, dann verlasse ich es eben zum Sterben.
Nikolaus Schneider, der wegen der Erkrankung seiner Frau sein Amt niederlegte, würde es hingegen gerne Gott überlassen, wann dieser ihr Leben für vollendet hält. Und doch respektiert er ihren Willen. «Am Ende würde ich sie wohl gegen meine Überzeugung aus Liebe begleiten.»
Der neue Sterbehilfe-Paragraf
Nach einer sehr emotionalen Debatte stimmte die Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestags am 6. 11. 2015 für folgenden Entwurf (360 dafür, 233 dagegen, 9 Enthaltungen):
«Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmässig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmässig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.»
Der Paragraf richtet sich vor allem gegen die organisierte Sterbehilfe und wird im Strafgesetzbuch hinter den Passus eingefügt, der die Tötung auf Verlangen verbietet.
Es geht um nicht weniger als um die Frage der Selbstbestimmung des Menschen in seinen letzten Stunden. 78 Prozent der Deutschen befürworten die begleitete Selbsttötung. Sie möchten, wenn sie es für richtig halten, mit Hilfe anderer aus dem Leben scheiden dürfen. Doch das wird durch das neue Sterbehilfegesetz in ihrem Land noch schwieriger als bisher.
«Zunehmend bleibt Sterbenskranken, falls sie ihr Leben selbstbestimmt beenden wollen, nur der Weg in die Schweiz», kritisiert Elke Baezner, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. Wo die Betroffenen Hilfe finden, ist kein Geheimnis. Die eidgenössischen Sterbehilfe-Organisationen Exit und Dignitas sind in der deutschen Debatte dauerpräsent. Sie stehen für die Selbstbestimmung über den eigenen Tod. Für Kritiker symbolisieren sie zugleich die geschäftsmässige Professionalisierung des Sterbens.
«Zahl deutscher Anfragen wird sich verdoppeln»
Zwischen 2008 und 2012 nahm die Zahl der Nicht-Schweizer, die zum Sterben ins Land kamen, deutlich zu. 268 von ihnen reisten aus Deutschland an, 126 waren Briten, 66 Franzosen. Das ergab eine Untersuchung im Jahr 2013 am Institut für Rechtsmedizin in Zürich.
Nach der Entscheidung in Berlin erwartet Exit-Chef Bernhard Sutter eine Verdopplung der Anfragen aus Deutschland. «Die Nachfrage nach Suizidhilfe in der Schweiz wird steigen.» Exit begleitet nur Schweizer in den Tod, deutsche Staatsbürger müssen sich an Dignitas und die kleinere Organisation Lifecircle wenden.
Dignitas hat in den 15 Jahren seines Bestehens rund 900 Deutschen beim Sterben geholfen, indirekt, durch das Reichen eines tödlichen Cocktails zur vereinbarten Zeit an einem geschützten Ort. Eine Freitodbegleitung bei Dignitas kostet, so rechnet der Schweizer Vereinsgründer Ludwig A. Minelli vor, etwa 10’500 Euro, zuzüglich Mitgliedsbeitrag, den der Verein erhebt. Die Summe schliesst die Vorbereitungen, Arztkosten und die Bestattung ein. Gewinne, so Minelli, erziele Dignitas mit dem Sterben nicht. Das wäre nach Schweizer Recht auch illegal.
Noch ist nicht abzusehen, was das deutsche Verbot der organisierten Sterbehilfe für die Schweizer Vereine bedeutet. Darf Exit zum Beispiel in Deutschland lebende Schweizer an ihrem Wohnort beraten? Macht sich künftig jemand, der Sterbende in die Schweiz begleitet, strafbar? «Das müssen dann die Gerichte entscheiden», sagt Wega Wetzel, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS)Externer Link gegenüber swissinfo.ch.
Selbst der wissenschaftliche Dienst des Bundestags beurteilt die Durchführung des neuen Gesetzes als rechtlich problematisch. Dennoch soll es 2016 in Kraft treten. Dignitas-Gründer Minelli hat bereits ankündigt, beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Beschwerde einzulegen, sollte Bundespräsident Gauck das Gesetz unterschreiben.
Gewissen statt Volkes Wille
Die DGHS hatte eine breite Kampagne gefahren, um gegen die absehbare Entscheidung im Bundestag mobil zu machen. Letztendlich bildeten die Abgeordneten jedoch nicht Volkes Wille ab, sondern missachteten diesen ihrer Gewissensentscheidung explizit. Vermutlich hat dabei auch die deutsche Geschichte ihre langen Schatten geworfen. Ein Land, das sich des organisierten Mordes an Millionen Juden und der organisierten Euthanasie schuldig gemacht hat, diskutiert dieses hochsensible Thema unter anderen Vorzeichen als beispielsweise die Schweiz. Hinzu kommt der Hang zum Paternalismus in der deutschen Politik. Vater Staat muss seine Bürger schützen – wenn nötig auch vor ihren eigenen Entscheidungen.
Wenig hilfreich für die Befürworter der Sterbehilfe in Deutschland war auch der Ruf der einzigen deutschen Organisation «Sterbehilfe Deutschland». Dessen Gründer Roger Kusch gilt vielen als unseriöser Geschäftemacher. Er selber bestreitet, je an seiner Tätigkeit verdient zu haben. 44 Suizidbegleitungen vermittelte der Verein des ehemaligen Hamburger CDU-Senators im Jahr 2014, zu einer Zeit, als dies noch legal war. 162 waren es insgesamt seit Gründung des Vereins. Die Mitglieder zahlten bis zu 7000 Euro an Kusch für seine Hilfe.
Die Staatsanwaltschaft Hamburg hat Anklage gegen Kusch wegen Totschlags erhoben. Sein Verein half zwei gesunden suizidwilligen Frauen in den Tod. Dabei soll er aktive Sterbehilfe geleistet haben. Die ist in Deutschland wie fast überall in der EU und auch in der Schweiz verboten. Nur Belgien, die Niederlande und Luxemburg erlauben unter bestimmten Umständen die Tötung auf Verlangen, allerdings nicht für Ausländer.
Neue Hürden für Ärzte
Kuschs Handeln und seine umstrittene Persönlichkeit haben die deutsche Debatte um die Sterbehilfe stark beeinflusst. Die 360 Abgeordneten hatten den Hamburger im Sinn, als sie für das Verbot der geschäftsmässigen Sterbehilfe stimmten. Bisher war die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland straffrei. Nun könnten sich jedoch auch wohlmeinende Ärzte strafbar machen, wenn sie Patienten bei ihrem Wunsch zu sterben assistieren. Aus der weiterhin erlaubten Einzelfallhilfe wird durch Wiederholung bereits das im Gesetz definierte «geschäftsmässige». Dazu müssen weder Zahlungen fliessen noch ein Verein oder gar unternehmerischer Kontext im Hintergrund stehen. Ärzten drohen bis zu drei Jahre Gefängnis, wenn sie mehr als einem Patienten Hilfe bei der Selbsttötung gewähren.
Kritiker des Gesetzes befürchten daher, dass sich Mediziner nun aus Furcht vor Konsequenzen kaum noch trauen werden, ihren Patienten beim Suizid zu assistieren. Paradoxerweise treibt das Gesetz dadurch sterbewillige Patienten in jene Vereine mit quasi-geschäftsmässigen Strukturen, denen es eigentlich die Grundlage entziehen will. Dass diese im Ausland agieren, kann den Betroffenen dabei egal sein. Der Wunsch zu sterben macht nicht vor nationalen Grenzen halt. Das weiss auch der deutsche Sterbehelfer Roger Kusch. Er hat bereits einen Vereinsableger in Zürich gegründet.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch