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Tunesier: verbittert, aber auch stolz, aufmucken zu können

Viele Tunesier sind von der Revolution enttäuscht. Keystone

Fünf Jahre nach der Flucht von Ben Ali trifft man in Tunesien auf viel "Stolz" aber auch "Enttäuschung". swissinfo.ch hat auf seinen französischen und arabischen Facebook-Seiten Berichte von Tunesiern gesammelt.

«Bitterkeit», «Traurigkeit»: Die Empfindungen der Tunesier fünf Jahre nach der Revolution vom 14. Januar 2011 stehen im Kontrast mit dem Bild eines Landes, das als «Ausnahme» des arabischen Frühlings gilt. Tunesien, das erste von einer Reihe arabisch-muslimischerStaaten, dessen Bevölkerung gegen das autoritäre Regime revoltierte, ist auf dem Weg zur Demokratie am weitesten fortgeschritten. Davon zeugen insbesondere die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Ende 2014. Aber noch bleibt viel zu tun, wie die Berichte von Internetbenutzern aus Tunesien bestätigen.

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«Das Resultat dieser Revolution? Die Armut, die Unwissenheit und die Arbeitslosigkeit haben zugenommen, die Politiker versuchen, sich zu bereichern, die Dienstleistungen sind nichts wert, und es gibt terroristische Anschläge», schreibt Naili, und Nizar haut in die gleiche Kerbe: «Das ist eine grosse Enttäuschung. Die Politiker benehmen sich wie im Zirkus». Die Siegerpartei der letzten Parlamentswahlen, die säkular-bürgerliche Nidaa Tounes, schwächelt. Sie ist seit Monaten intern zerstritten, trägt Konflikte öffentlich aus und trägt zur Verunsicherung bei.

«Die Regierungen, die nach der Revolution an die Macht kamen, haben ihre Versprechen in sozialen und ökonomischen Belangen nicht gehalten», beklagt Achraf. «Sie begnügen sich mit politischen Aspekten und streiten sich um die einflussreichsten Posten, ohne sich weder um die Probleme der armen Leute in den benachteiligten Regionen noch um die Jungen zu kümmern, die missachtet und vergessen werden.»

Die Situation der jungen Leute, die sich gegen das Regime aufgelehnt hatten, um Arbeit, Würde und Freiheit zu bekommen, ist tatsächlich kritisch. Die Arbeitslosigkeit liegt auf nationaler Ebene bei 15 Prozent, übersteigt 30 Prozent bei den Schulabgängern. Die Jugend ist ausserdem das Ziel von ausgesprochen restriktiven Gesetzen. Die Gefängnisse, wo laut Menschenrechtsorganisationen prekäre Zustände herrschen, sind mit jungen Leuten überfüllt, denen vorgeworfen wird, Cannabis geraucht oder homosexuelle Beziehungen gehabt zu haben.

«Nichts ist mehr wert als die Redefreiheit»

Trotzdem geben sich die Tunesier optimistisch. «Abgesehen von der generellen Enttäuschung, die mit der ökonomischen und sozialen Krise in Zusammenhang steht, hat die Revolution ermöglicht, unsere Gesellschaft zu hinterfragen», meint Garci. «Um Lösungen zu finden, ist es sinnvoller, unsere schwierige Situation zu hinterfragen, als nach einem Diktator zu rufen.»

Und der Unternehmer Faouzi schreibt: «Ich habe meine Fabrik verloren, meine Kunden und meine Ersparnisse. Aber ich bereue nichts. Nichts ist mehr wert als die Redefreiheit.»

Hassan ist froh, dass «die Bürgerinnen und Bürger wieder normal weiterleben, trotz der manchmal dramatischen Vorfälle», meint er mit Bezug auf den Terrorismus, der in Tunesien seit 2011 wütet. «Positiv ist auch, dass jeweils ein Dialog zwischen den verschiedenen Partnern entsteht, wenn es darum geht, adäquate Lösungen zu finden.» Dafür hat das «Quartett für den nationalen Dialog» übrigens 2015 den Friedensnobelpreis erhalten.

Die 20-jährige Wejdène gibt ihrem «Stolz» Ausdruck, das Stimmrecht erworben zu haben. «Rom ist auch nicht in einem, zwei, drei oder vier Jahren gebaut worden. Es braucht Durchhaltevermögen, Hartnäckigkeit und Mut. Einige Mentalitäten ändern sich langsam.»

Anissa nimmt es mit Humor: «In der Zwischenzeit mucken wir auf. Diese Freiheit können wir am besten anwenden.»

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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