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Wer gewinnt die WM? Statistiken als Kristallkugel…

Fussball-WM-Pokal und Fussball auf grünem Rasen
Das Finale der Fussball-Weltmeisterschaft findet am 15. Juli im Moskauer Luzhniki-Stadion statt. Keystone

Statistische Analysen haben sich unterdessen einen Stammplatz auf dem grünen Rasen erkämpft. Ganz vorne im Sturm spielt das Neuenburger Football Observatory. Wer sind die Favoriten an der kommenden Fussball-Weltmeisterschaft in Russland? Der Leiter des Fussball Observatoriums verrät es uns.

Welchen Marktwert hat Mohammed Salah? Sind die 222 Millionen Euro, die Paris Saint-Germain (PSG) für den Kauf von Neymar bezahlte, gerechtfertigt? Und können Parallelen zwischen den Profilen von Paulo Dybala und Lionel Messi gezogen werden?

grafico che compara il profilo di dybala a quello di Messi
www.football-observatory.com

Wer auf der Webseite des Football ObservatoryExterner Link des Neuenburger International Centre for Sports StudiesExterner Link (CIES) herumsurft, fühlt sich wie im Spiel «Football Manager».

Pässe und Ballrückeroberungen, Gefährlichkeit der Spieler, Durchschnittsalter der Mannschaft, Anteil ausländischer Spieler, Stabilität der Mannschaften… Für Fussballbegeisterte und Fachleute ist diese Webseite eine wahre Fundgrube.

«Wir haben 2005 mit dem Observatory angefangen. Damals steckten die Datenwissenschaften und die Nutzung von ‹Big Data› im Sport – und besonders im Fussball – noch in den Kinderschuhen», sagt Raffaele Poli, Verantwortlicher für das Observatorium. Dieses besteht aus drei Forschern und einem Mitarbeiter für die Datenerhebung.

In den wöchentlichen NewslettersExterner Link des Fussball-Observatoriums kann die breite Öffentlichkeit in die Ergebnisse der Analysen der Forscher eintauchen, etwa zur Frage, welche Teams am ehesten die Weltmeisterschaft in Russland gewinnenExterner Link werden.

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Der korrekte Marktwert

Am Anfang beschäftigte sich das Institut mit Fragen der Demografie und Migration und konzentrierte sich dabei auf die Karriereschritte der afrikanischen und südamerikanischen Spieler, die bei europäischen Klubs gelandet waren.

Als dann immer mehr statistische Daten zur Verfügung standen (Pässe, Ballberührungen, Schüsse, Tacklings), konnte das Observatorium sein Angebot ausbauen.

«Wir entwickelten eine zweite Forschungslinie mit einer Methodik für den Vergleich von Spielern oder Vereinen auf Grundlage ihrer Leistung», sagt Poli. «Dann setzten wir einen Algorithmus auf, der ein Dutzend Gruppen von Indikatoren umfasst und mit dem wir den echten Marktwert eines Spielers angeben können. In diesem Bereich ist unsere Dienstleistung bei Vereinen und Marktteilnehmern sehr gefragt.»

In den letzten Jahren schossen Unternehmen, die sich mit Sportstatistiken und -analysen befassen, wie Pilze aus dem Boden. Gegenwärtig findet ein Konzentrationsprozess statt. So kaufte etwa die 2007 gegründete englische Perform die beiden Firmen Opta Sport und Scout 7 auf.

Im Vergleich zu diesen Firmen unterscheidet sich das Neuenburger Observatorium durch seinen wissenschaftlichen Ansatz: «Wir sind in keinem Handelsregister, auch wenn wir oft bezahlte Forschungsmandate annehmen», sagt Poli. «Das CIES, zu dem wir gehören, wird strukturell durch die Fifa finanziert.»

Für nachhaltigen Fussball

Ihre Motivation holen die Forscher vor allem aus ihrer Leidenschaft für einen Sport, der laut Poli durch die «reine Spekulation» in Gefahr ist. Sie verfolgen die Vision, dass ein «nachhaltiger und gesünderer Fussball» noch möglich ist.

«Der Fussball sollte sich so entwickeln, dass die Talente geschätzt und nicht schon von klein auf wie Waren behandelt werden. »

«Der Fussball sollte sich so entwickeln, dass die Talente geschätzt und nicht schon von klein auf wie Waren behandelt werden. Das Problem gibt es schon seit Jahren, aber es nimmt zu, mit den grösseren Budgets der Klubs, mit dem Einstieg von Investmentfonds, die auf die Karriere von Spielern spekulieren, mit vielen Spieleragenten, die zu Investoren werden. Dies geschieht auf Kosten der Teams, und die Trainingsvereine verarmen wegen diesen neuen Mechanismen», sagt Raffaele Poli.

Mit dem Versuch, den Wert eines Spielers objektiv zu quantifizieren, könne ein Werkzeug zur Verfügung gestellt werden, um gegen diese Tendenzen in der Welt des runden Leders anzukämpfen.

«Gegenwärtig ist eine Reform des Transfer-Systems im Gang, und wir als Experten können mit validen, objektiven und historischen Daten, die eine Reihe von Faktoren berücksichtigen, Einfluss nehmen und damit Impulse für eine bessere Rechtsetzung geben», sagt Poli.

Manchmal widersprechen diese Zahlen der vorherrschenden Meinung. Vor etwas weniger als einem Jahr standen wahrscheinlich mehr als einer Person die Haare zu Berge, als der Forscher sagte, dass die von Paris Saint-Germain für Neymar bezahlte Transfersumme (222 Millionen Euro) eine rationale Investition im Einklang mit dem vom Fussball-Observatorium berechneten Marktwert sei.

«Es gab aber auch andere Transfers, zum Beispiel von Aussenverteidigern wie Kyle Walker oder Benjamin Mendy (von Manchester City für 51, respektive 57 Millionen Euro gekauft), für die der doppelte Schätzpreis bezahlt wurde. Da herrscht eine regelrechte Inflation», so Poli.

grafico con l evoluzione del valore di neymar
www.football-observatory.com

Big Data im Dienst von König Fussball

Über diesen Aspekt des Marktwerts hinaus verbreitet sich die Datenwissenschaft, die auf den Fussball angewandt wird, immer weiter. Heute verfügen alle grossen Klubs über einen Datenspezialisten, der Statistiken analysiert. Und Trainer, die diesen Aspekt nicht berücksichtigen, gelten heute als Techniker, die nicht mit der Zeit gehen. «Das Gleiche geschah mit dem körperlichen Training: Die Anpassung an die neuen Trainingsmethoden dauerte Jahre», sagt Poli.

Und was wird in ein paar Jahren geschehen? Rein technische Entscheide werden durch Technologie und Analyse gefällt, und nicht mehr durch den Trainer. Das sagt Jaeson Rosenfeld voraus, der Statistikberater des ehemaligen Arsenal-Trainers Arsène Wenger.

«Rosenfeld ist ein Amerikaner, und er pflegt einen sehr ‹Baseball-geprägten› Ansatz. Aber er irrt sich, denn der Fussball ist ein ganz anderes Spiel», sagt der Verantwortliche des Fussball-Observatoriums.

«Die Technologie und die Wissenschaft werden bei der Ausbildung, bei den Übungen, bei der Unfallverhütung einen noch grösseren Stellenwert einnehmen. Auf technischer und taktischer Ebene allerdings sind die Daten nur eine Seite der Medaille. Sie können auf deskriptiver Ebene dienen, aber auf der analytischen Ebene reichen sie oft nicht aus», sagt Poli.

«Im Fussball gehören Fehler einfach dazu. Denn nur mit dem Eingehen von Risiken – und damit auch möglichen Fehlern – kann ein Spieler diese Kombinationen einleiten, die eine Partie entscheiden können. Diese Unvorhersehbarkeit macht grosse Mannschaften und grosse Spieler aus.» Und diese menschliche Unvorhersehbarkeit werden keine Daten jemals quantifizieren können.

Woher kommen die Daten?

Für den Transfermarkt holt das Football Observatory Daten bei den Ligen, Klubs und weiteren spezialisierten Portalen.

Für die Leistungen der Spieler der «Big 5» (englische, spanische, deutsche, französische und italienische Meisterschaften) verlässt sich das Observatorium auf Daten der spezialisierten Firma «OptaPro», die diese durch Fernsehbilder erhebt. Jeder Match wird von drei Personen verfolgt, welche die Statistiken jedes einzelnen Spielers notieren.

«Es gibt andere Firmen, die behaupten, ihre Daten fast automatisiert sammeln zu können. Wir sind noch nicht auf diesem Niveau, auch wenn wir es eines Tages vielleicht erreichen werden», sagt Raffaele Poli.

«Für einen Algorithmus ist es schwierig, alles zu erkennen. Hat ein Spieler ein Tackling gemacht oder nicht? Gegenwärtig ist die menschliche Analyse noch nötig, um technische Aktionen etwas zu objektivieren.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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