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Stephan Lichtsteiner, der unbequeme Vorzeigeschweizer

Vor einem seiner legendären Flankenbälle: Stephan Lichtsteiner
Der rechte Aussenverteidiger der Nation: Stephan Lichtsteiner ist einer der Bausteine der andauernden Erfolgs-Ära der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. Keystone

Am Sonntag startet die Schweiz gegen Rekordweltmeister Brasilien in die Fussball-WM. Stephan Lichtsteiner trifft auf Superstar Neymar. Der Schweizer Captain kann in Russland seine grossartige Karriere krönen.

Man muss diese Geschichte dringend erwähnen, um sich Stephan Lichtsteiner anzunähern: Vor etwas mehr als drei Jahren also sagte der Captain der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft in mehreren Interviews, es gehe ihm nicht um «richtige und andere Schweizer».

Aber natürlich ging es ihm genau darum. «Wir brauchen im Nationalteam Identifikationsfiguren», sagte Lichtsteiner, es war eine gezielte Aktion, um eine Debatte anzuschieben, welche die Fussballschweiz schon lange beschäftigt. «Es ist ein heikles Thema, das weiss ich», sagte Lichtsteiner, «es ist aber auch ein Thema, vor dem wir uns nicht verschliessen dürfen».

Stephan Lichtsteiner sprach aus, was an den Stammtischen des Landes eifrig diskutiert wird. In der Schweizer Auswahl stehen viele Secondos, für viele zu viele, so ist das, und natürlich wusste Lichtsteiner, was er mit seinen Aussagen auslösen würde. Aber er ist keiner, der dem Frieden zuliebe schweigt, wenn ihn etwas beschäftigt. Und man liegt vermutlich nicht falsch, wenn man glaubt, Lichtsteiner hätte lieber mehr Meiers, Müllers und Gerbers im Nationalteam.

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Aber er ist deswegen weit davon entfernt, die Verhältnisse nicht zu akzeptieren. «Die vielen Spieler mit Migrationshintergrund sind tolle Menschen und Superfussballer», sagte Lichtsteiner im Mai 2015 auch noch. «Doch es ist wichtig, die richtige Balance zu finden. Das Volk will und soll sich mit der Nationalmannschaft identifizieren können.»

Lichtsteiner singt

Nun ist Sommer 2018. Und Stephan Lichtsteiner steht mehr denn je für die alte Schweiz in der helvetischen Fussballselektion. Neben ihm sind mit Goalie Yann Sommer und Innenverteidiger Fabian Schär nur noch zwei Akteure ohne ausländische Wurzeln in der Stammelf gesetzt, beide sind sie ebenfalls Defensivkräfte.

Und die Debatte um «richtige und andere Schweizer» mag in der heutigen Zeit absurd erscheinen, doch noch immer regen sich nicht wenige Leute auf, wenn die meisten Schweizer Elitekicker während der Nationalhymne vor einer Partie schweigen.

Zum Glück für sie gibt es Stephan Lichtsteiner. Der Innerschweizer singt. Und er ist einer, auf den Herr und Frau Schweizer stolz sein dürfen. Der rechte Aussenverteidiger hat eine grossartige Karriere hingelegt, mit viel Fleiss und Schweiss, Disziplin und Willen. Von Adligenswil über Luzern und den Grasshopper Club Zürich ins Ausland, dort vom französischen Lille über Lazio Rom zu Juventus. 

Beim Turiner Weltclub gewann er in den letzten sieben Jahren einen Titel nach dem anderen, er verlässt Juventus nach dieser Saison als Serienmeister. Aber er kehrt, obwohl 34 Jahre alt mittlerweile, nicht in die beschauliche Schweiz zurück.

Mit 34 zu Arsenal

Lichtsteiner suchte eine neue Herausforderung, er wäre gerne zu Borussia Dortmund in die Bundesliga gegangen, nun ist Arsenal London sein nächster Arbeitgeber, eine Premiumadresse in der grossen, reichen Premier League.

Und der Juventus-Titelhamsterer wechselt nicht nach London, um einen hübschen Vertrag abzusitzen. Lichtsteiners Anspruch wird es auch bei Arsenal sein, jeden Tag das Beste aus sich herauszuholen – und mit seinem Team Erfolge zu feiern.

Vorher aber steht noch die Weltmeisterschaft 2018 auf seiner Agenda. Bei Lichtsteiner ist so etwas zwar schwierig zu prophezeien, aber vermutlich ist es seine letzte WM, in vier Jahren wird er 38 sein. «Wir fahren nach Russland und werden versuchen, Erfolg zu haben», sagt Lichtsteiner. «Wir sind zuversichtlich und selbstbewusst und haben uns in den letzten Jahren immer weiter gesteigert.»

Im erlauchten 100er-Klub

Kürzlich bestritt Stephan Lichtsteiner im Testspiel gegen Japan in Lugano sein 100. Länderspiel seit seinem Debüt kurz nach der WM 2006. Damit ist er zusammen mit Heinz Hermann (117), Alain Geiger (112) und Stéphane Chapuisat (103) einer von vier Schweizern, die 100 oder mehr Einsätze für das Nationalteam absolviert haben.

Lichtsteiner schien die Ehrung zu seinem Jubiläum fast schon zu langweilen. Er ist ein Wettkämpfer, seine Bühne ist das Spielfeld, nicht der Presseraum, er will gewinnen, immer und immer wieder, sein Ehrgeiz und seine Leidenschaft sind legendär. Und eben irgendwie nicht ganz typisch für ein Land, in dem es den Menschen sehr gut geht – und in dem viele zur Genügsamkeit in der Komfortzone neigen.

Lichtsteiner hat seine Grenzen regelmässig ausgelotet, so gesehen steht er erneut wie kein anderer für diese talentierte Nationalmannschaft mit einer jüngeren Generation, die an sich glaubt. Und mit Mitgliedern jener U-17-Auswahl, die 2009 Weltmeister wurde. Wie der überragende Stratege Granit Xhaka. Oder wie der starke Linksverteidiger Ricardo Rodriguez. «Wir können einen WM-Halbfinal erreichen», hat Xhaka, der bei Arsenal Lichtsteiner als neuen Teamkollege erwartet, schon vor Jahren gesagt.

Möglicherweise wird Xhaka irgendwann Lichtsteiner als Schweizer Captain beerben. In Russland werden die beiden zusammen mit Aggressivleader Valon Behrami die Auswahl als Leader führen. Das grosse Ziel dieser Mannschaft ist es, endlich einen WM-Achtelfinal zu überstehen.

2006 und 2014 scheiterten die Schweizer im Achtelfinal ebenso knapp wie vor zwei Jahren an der Euro. 2006 und 2016 im Elfmeterschiessen gegen die Ukraine und Polen, 2014 nach einem Gegentor in der zweitletzten Minute der Verlängerung 0:1 gegen den späteren Finalisten Argentinien. «Wir haben das Potenzial, weit zu kommen», sagt Lichtsteiner, «aber es muss alles passen.»

Am Sonntag gegen Neymar

Die Schweizer Vorrundengruppe mit Rekordweltmeister Brasilien, den unberechenbaren Serben sowie Costa Rica, 2014 WM-Viertelfinalist, ist stark besetzt. Und als Gruppenzweiter würde im Achtelfinal vermutlich Titelverteidiger Deutschland warten.

Der Weg in den Viertelfinal ist also steinig und hart. «Wir sind gut beraten, Spiel für Spiel zu nehmen», sagt Lichtsteiner, «alles andere wäre fahrlässig.»

Stephan Lichtsteiner ist wie Valon Behrami ein Mentalitätsmonster. Auf und neben dem Platz. Unerbittlich, kompromisslos, zielstrebig. Früher agierte er manchmal zu wild und zu forsch, daran hat er gearbeitet, ohne von seiner Aggressivität zu verlieren.

Und nun steht er am Sonntag im WM-Startspiel vor einer seiner grössten Herausforderungen. Sein direkter Gegenspieler wird Neymar sein, mit einer Ablösesumme von fast 250 Millionen Franken teuerster Fussballer der Geschichte. Der brasilianische Superstar von Paris Saint-Germain kehrte vor bald zwei Wochen nach über dreimonatiger Verletzungspause beeindruckend brillant zurück.

Neymar schoss in den Testspielen gegen Kroatien und Österreich zwei wunderschöne Treffer. Er ist Brasiliens Hoffnungsträger, die südamerikanische Auswahl ist WM-Topfavorit. «Für solche Partien trainieren wir», sagt Lichtsteiner. «Wir haben gegen Brasilien nichts zu verlieren.»

Das Lob des Trainers

Es wäre angesichts des fortgeschrittenen Alters von Lichtsteiner logisch, würde er nach der WM aus dem Nationalteam zurücktreten. Doch das ist alles andere als sicher. Er will weitermachen, immer weiter. Und wieso sollte er als Arsenal-Professional nicht mehr Nationalspieler sein?

Man darf gespannt sein, wie er sich entscheiden wird. Das hängt gewiss auch vom Abschneiden an der Weltmeisterschaft ab. Sein Vorgesetzter ist jedenfalls froh, eine derart ausgeprägte Führungskraft wie Lichtsteiner im Kader zu haben. «Seine Einstellung ist grossartig, seine Klasse unbestritten», sagt Nationaltrainer Vladimir Petkovic. «Und es ist gut, spricht Stephan Lichtsteiner auch unangenehme Themen an.»

Interessanterweise besitzt die Schweiz auf keiner anderen Feldspielerposition eine so hohe Leistungsdichte wie auf jener von Lichtsteiner. Der Kampf um seine Nachfolge als Rechtsverteidiger ist sinnbildlich für die nationale Auswahl. Mit Michael Lang und Silvan Widmer stehen zwei starke Akteure mit reinen Schweizer Wurzeln zur Verfügung. Und mit Kevin Mbabu sowie Florent Hadergjonaj auch zwei Aufsteiger mit Migrationshintergrund.

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