Negativzinsen: Im Teufelskreis nach unten
Fünf Jahre nach der Einführung der Negativzinsen in der Schweiz ist noch immer kein Ende in Sicht. Mitschuld daran trägt eine Fehleinschätzung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) vor 20 Jahren.
Dann sagt ihr: «Schau, the end is near, now bitte face your final curtain.»
Ah, wir sind schlau, wir bleiben hier, für die Gesichter, die empörten
Diese Geister singen schief und sind nicht einfach auszutreiben
Entschuldigung, ich sagte: «Wir sind gekommen, um zu bleiben!»
– Judith Holofernes («Wir sind Helden»)
Wären die Schweizer Negativzinsen die deutsche Musikgruppe «Wir sind Helden», dann hätten sie bereits zwei Studioalben veröffentlicht. Fünf Jahre nach der Bandgründung war es Judith Holofernes, die Frontfrau der Band, die gesungen hat: «Wir sind gekommen, um zu bleiben». Fünf Jahre nach der Einführung der Negativzinsen in der Schweiz scheint wahrscheinlich, dass auch die Negativzinsen gekommen sind, um zu bleiben.
Ein folgenschwerer Entscheid
Eine der Ursachen für die Negativzinsen liegt im Jahr 2000. Damals traf die Nationalbank einen folgenschweren Entscheid: Sie führte ein neues geldpolitisches Konzept ein. Es besagt, etwas vereinfacht gesagt, dass die SNB die Zinsen erhöht, wenn die Teuerungsprognose über 2% steigt. Ebenfalls sieht es Zinssenkungen vor, wenn die erwartete Teuerung unter 0% fällt. Die proaktiven Zinsschritte der Nationalbank sollten so sicherstellen, dass die Teuerung weder zu hoch noch zu tief ausfällt.
Kurz nach der Einführung des damals neuen Konzepts war der SNB-Leitzins 3.5 %. Heute sind die Zinsen mit –0.75% so tief, dass sie kaum mehr weiter gesenkt werden. Ein Negativzins-Umfeld wurde damals schlicht nicht in Betracht gezogen. Die Nationalbankspitze ging davon aus, dass sie die Zinsen auch in der schwersten Krise würde senken können.
Szenarien einer Fehleinschätzung
Weshalb ist diese Fehleinschätzung mitschuldig an den Negativzinsen? Um das zu verstehen, betrachten wir drei denkbare geldpolitische Rahmenbedingungen.
Im einfachen Bereich prognostiziert die SNB eine Teuerung von über 2%. Das war zum Beispiel Mitte der 2000er-Jahre so. Um zu verhindern, dass die Teuerung über das Ziel hinausschiesst, erhöhte die Nationalbank damals die Zinsen.
Auch heute könnte die SNB die Zinsen anheben, wenn sie müsste – und zwar trotz der riesigen Geldmenge (wie das geht, erklären wir hier). Die letzte SNB-Zinserhöhung ist allerdings schon eine Weile her. Sie wurde 2007 vom Vor-Vorletzten Präsidenten der Nationalbank, Jean-Pierre Roth, beschlossen. Damals hörten wir alle noch (heimlich) Britney Spears.
Im langweiligen Bereich liegt die Teuerungsprognose im Zielband der Nationalbank, also zwischen 0 und 2%. In diesem Fall macht die Nationalbank nichts. In den letzten Jahren befand sich die SNB-Teuerungsprognose häufig in diesem Bereich. Allerdings war die Prognose im Durchschnitt zu hoch. Die SNB operierte also näher am kritischen Bereich, als ihr bewusst war.
Im kritischen Bereich erwartet die SNB eine negative Teuerung. In diesem Bereich verschreibt das geldpolitische Konzept der Nationalbank eine Stimulierung, also eine Zinssenkung. Dieser Bereich ist kritisch, wenn keine substanziellen Zinssenkungen mehr möglich sind. Fällt die Teuerungsprognose dann nämlich unter 0%, bleibt der Nationalbank kaum mehr etwas übrig, als die negative Teuerung zu tolerieren.
Unerwartete Rückkoppelungen
Mit weitreichenden Folgen. Die Firmen sind nämlich schlau: Sie wissen, dass die Nationalbank an der Zinsuntergrenze nicht mehr stimulierend eingreifen kann. Das führt dazu, dass die Teuerungserwartungen der Marktteilnehmer unter das durchschnittliche Teuerungsziel fallen.
Die Antennen der Nationalbankökonomen wiederum empfangen dieses Signal. Als Folge davon korrigieren auch sie ihre Teuerungsprognose nach unten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Prognose in den negativen Bereich fällt, wird überproportional gross. Was wiederum dazu führt, dass die Notenbank die Zinsen häufiger senkt, als anhebt.
Theoretische wissenschaftliche Arbeiten* haben schon um 2000 auf diese Problematik hingewiesen: Eine teuerungsstabilisierende Geldpolitik in der Nähe der Zinsuntergrenze würde über kurz oder lang immer in einer Tiefzinsfalle enden. Die Warnung war berechtigt: Das gemeinsame Sinken der Teuerungserwartungen und Zinsen in den letzten Jahren zeugt davon.
Wie der Abwärtstrend zu stoppen wäre
Um dieser Problematik Herr zu werden, liebäugelt die US-Notenbank mit einem neuen System, dem sogenannten «durchschnittlichen Teuerungsziel» (average inflation targeting, AIT). In einem AIT-System muss eine zu tiefe Teuerungsrate mit künftig höherer Teuerung kompensiert werden.
Das führt dazu, dass die Teuerungserwartungen in einer Krise steigen – was stimulierend auf die Wirtschaft wirkt. Dadurch werden Zinssenkungen weniger häufig und Episoden an der Zinsuntergrenze weniger wahrscheinlich. Der Abwärtstrend in den Zinsen wird gestoppt.
Die Asymmetrie im geldpolitischen Konzept der Nationalbank führte systeminhärent zu Negativzinsen. Es gibt aber gute Neuigkeiten: Mit einem AIT-System kann die selbstverstärkende Dynamik der fallenden Zinsen durchbrochen werden. Ob das SNB-intern in Betracht gezogen wird? Die Tiefzinsfalle als ausweglos darzustellen ist auf jeden Fall keine Alternative. Affaire à suivre.
Die Musikgruppe «Wir sind Helden» gab es übrigens während zwölf Jahren.
*Benhabib, J., S. Schmitt-Grohé und M. Uribe (2001): «The Perils of Taylor Rules,» Journal of Economic Theory, 96 (1-2), 40-69.
Autor Fabio CanetgExterner Link ist Makroökonom an der Universität Bern. Mit Unterstützung von Michèle Nagel.
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