«Georgien kam mir vertraut vor, als würde ich nach Hause kommen»
Vor acht Jahren hat sich die Bernerin Barbara Gimelli in Georgien, der Heimat ihres Mannes, niedergelassen. Die Mutter von drei Kindern fühlt sich gut integriert und liebt das Land – trotz all der Probleme und Herausforderungen, die der Alltag im kaukasischen Land mit sich bringt.
«Es sieht ganz danach aus, als würden wir noch etwas bleiben», sagt Barbara Gimelli Sulashvili. Seit 2007 wohnt die Schweizerin zusammen mit ihrem Mann und den Kindern Sara (6), Noa (4) und Theo (10 Monate) in der Hauptstadt Tbilisi.
Verantwortlich für diesen Lebensverlauf ist die Pfadfinderbewegung: Vor 15 Jahren lernte sie in einem Lager in Aserbaidschan ein paar georgische Pfadfinder kennen, von denen sie, ihre Schwester zusammen mit einer Freundin nach Georgien eingeladen wurden. Per Zug fuhren die drei von der aserischen Hauptstadt Baku nach Batumi ans Schwarze Meer – eine über 20-stündige Reise.
«Nachdem ich in Aserbaidschan einen Kulturschock erlebt hatte, kam mir Georgien sehr vertraut vor – als würde ich nach Hause kommen. ‹Hier könnte ich leben›, sagte ich. ‹Du bist wohl nicht ganz 100, niemand würde dies freiwillig tun›, tönte es aus meinem Umfeld.»
Aus der Begegnung mit den georgischen Pfadfindern entstand das Caucasus Cooperation ProjectExterner Link, das Barbara Gimelli Sulashvili mitgegründet hat und dessen Ehrenmitglied sie noch heute ist. Da die «Pfadi» unter dem Kommunismus verboten war, steckte die Bewegung noch in den Kinderschuhen. So kamen Georgier zur Leiterausbildung in die Schweiz, und Schweizer reisten nach Georgien, um den Aufbau der dortigen Pfadibewegung zu unterstützen. Dann kam das mit der Liebe: Barbara Gimelli lernte ihren jetzigen Mann kennen, auch er ein Pfadfinder.
Gut integriert
Nach der Ausbildung zur Primarlehrerin studierte sie in Genf internationale Beziehungen und forschte 2003 für ihre Masterarbeit über die russisch-georgischen Beziehungen in den Archiven in Tbilisi. Auch ihre Doktorarbeit, die zurzeit in der Schublade liegt, dreht sich um das Verhältnis zwischen den zwei Ländern.
Darauf wohnte das Paar fünf Jahre in Genf, dem jungen Georgier fehlten jedoch das soziale Netz, die Freunde, die Familie. «Er hatte schlicht und einfach Heimweh. So beschlossen wir 2007, für drei bis fünf Jahre nach Georgien zu ziehen. Jetzt sind wir noch immer hier.»
Georgien ist seit 1991 ein unabhängiger Staat.
Seit dem Konflikt mit den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien 1992 und dem Krieg von 2008 zwischen Russland und Georgien gibt es im Land über eine halbe Million Intern-Vertriebene.
Das Land ist eineinhalb Mal so gross wie die Schweiz und hat 3,7 Mio. Einwohner, 14,7% weniger als 2002.
Über 70% der Bevölkerung sind Georgier, dazu kommen grössere Minderheiten von Russen, Armeniern und Aseris. Eine Mehrheit gehört der Georgisch Orthodoxen Kirche an.
2014 schloss Georgien ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU. Zudem strebt das Land einen Nato-Beitritt an.
Gemäss letzter Umfrage des National Democratic Institute (NDIExterner Link; US-NGO in Georgien) sind 31% der georgischen Bevölkerung für einen Beitritt ihres Landes zur russisch dominierten Eurasischen Union.
76% der Georgier sehen laut NDI Russland aber als Bedrohung für ihr Land.
Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2014 bei 3700 US-Dollar. (Quelle: IWF)
Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 14%, inoffizielle Zahlen liegen bei über 50%.
Und darüber ist sie nicht unglücklich, denn im Grossen und Ganzen fühlt sich die schweizerisch-georgische Doppelbürgerin wohl und gut integriert. «Ich hatte das Glück, von der Familie und dem Freundeskreis meines Mannes sehr gut aufgenommen zu werden.»
Sie arbeitet wieder auf ihrem ursprünglichen Beruf als Lehrerin in der Rudolf Steiner Schule. Zudem wurde das Pfadi-Projekt weiterentwickelt. Mit Hilfe der Schweizer Stiftung «Caucasus Cooperation Foundation for Youth DevelopmentExterner Link» kauften sie ein Haus in Rustavi, 30 km von der Hauptstadt entfernt, das sie in eine Jugendherberge und ein Jugendzentrum umfunktionierten. In diesem internationalen Scout Centre RustaviExterner Link finden auch Vorführungen des Schweizer Kinderfilmclubs «Zauberlaterne»Externer Link statt.
Aktiv in Tourismus und Biolandwirtschaft
Und das ist noch nicht alles, was die Auslandschweizerin auf die Beine gestellt hat: 2004 gründete sie zusammen mit Familienmitgliedern eine Reiseagentur, die mit Partnerbüros in der Schweiz und ganz Europa zusammenarbeitet und Reisen für Gruppen und Einzelpersonen organisiert. «Operativ tätig bin ich zwar nicht mehr, ich springe aber ein, wenn es brennt.» Bis 2008 habe der Tourismus in Georgien stetig zugenommen. «Dann kam der Krieg mit Russland, und es ging bergab. Jetzt sind wir wieder etwa auf dem Niveau von 2008. Ein Land für Massentourismus wird Georgien aber wohl nie werden, und das ist vielleicht auch gut so.»
Zudem hat das Paar in Lagodechi nahe der Grenze zu Aserbaidschan ein grosses Stück Land gekauft, um einen Bio-Bauernhof aufzubauen – «eine Art kleinräumiges Entwicklungsprojekt, bei dem Nachbarn involviert sind und sich so eine Existenz aufbauen können». Übers Wochenende ist die Familie oft dort, «das Haus ist sehr einfach, mit Holzofen und so, aber die Kinder sind dort glücklich».
Kritisieren tut die 40-Jährige wenig an ihrer Wahlheimat, sie mag die beiden Welten auch nicht gegeneinander ausspielen. «Was ich hier vermisse, sind gute öffentliche Verkehrsmittel. Weil es nicht anders machbar ist, fahre ich Auto.» Nicht gerade begeistert ist sie, wenn sich Familienmitglieder und Nachbarn in alles einmischen. «Manchmal könnte ich sie alle auf den Mond schiessen», meint sie lachend. Und sie stört sich am Abfallproblem, am fehlenden Recycling. Sonst aber fehle ihr nichts, im Gegenteil: «Hier ist vieles möglich, man kann in ein paar Tagen eine Firma gründen und Ideen verwirklichen, man kann etwas tun und verändern. Wenn ich in der Schweiz bin, staune ich jeweils über die Sorgen der Leute.»
Die Schatten der Vergangenheit
Schönreden will sie die Lage in Georgien aber nicht: Da ist die hohe Arbeitslosigkeit, die unsichere politische Lage und die Armut, die ihr zu schaffen macht, oder auch die mangelnde Initiative der Bevölkerung. «Dass oft der Wille fehlt, kommt aus dem Kommunismus, wo Individuen ausgeliefert waren und jede Eigeninitiative gekappt wurde. Nach dessen Zusammenbruch wurden viele Leute aus der Bahn geworfen, denn plötzlich fehlte das System, an dem man sich orientieren konnte. All dies hat Spuren in den Herzen und Köpfen der Menschen hinterlassen.» Diese Lethargie sei für Leute aus dem Westen, wo man nach dem Motto ‹wo ein Wille ist, ist auch ein Weg› lebe, schwer nachvollziehbar. «Georgien tickt da anders.»
Ein Riesenthema ist nach Einschätzung der ausgewanderten Schweizerin das Problem der Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten Abchasien und Südossetien. «Auch wenn das Thema nicht mehr so augenfällig ist, so ist es doch ein politisches Pulverfass. Die Regierung hat viele Hoffnungen geweckt und wenig getan. Noch lange haben nicht alle Flüchtlinge Häuser oder Wohnungen erhalten. Teils leben sie seit über 20 Jahren in provisorischen Unterkünften.»
Das alles habe aber die Beziehungen zur russisch-stämmigen Bevölkerung und zu den Touristen aus Russland aber kaum beeinträchtigt. «Die Russen hier sind ganz normale Leute, es gibt auch viele gemischte Ehen. Die Georgier machen sehr wohl einen Unterschied zwischen der russischen Regierungspolitik und der russischen Bevölkerung.»
Zunehmend Mühe bereitet ihr jedoch die Rolle der Kirche. «Diese ‹heilige Kuh› bremst und lähmt die Gesellschaft. Sie ist ein Standbein der jetzigen Regierung und versucht, immer mehr Einfluss auf die Politik zu nehmen.» Die Macht der Kirche erklärt sich Barbara Gimelli Sulashvili damit, dass diese den Leuten in der Orientierungslosigkeit nach der Sowjetzeit – mit Krieg und Bürgerkrieg – als einzige Halt gegeben habe.
Bleiben oder zurück in die Schweiz?
Zweimal im Jahr, im Sommer und über Weihnachten, fährt Barbara Gimelli Sulashvili mit der Familie in die Schweiz. Kontakte mit Schweizer Expats in Georgien hat sie wenig. Ab und zu nimmt sie an einer Kulturveranstaltung teil, wie im Mai, als der Schweizer Mundartschriftsteller Pedro Lenz im Goethe-Institut in Tbilisi eine Lesung gehalten hatte. In all den Jahren hat sie die georgische Sprache gelernt, mit ihren Kindern redet sie allerdings Berndeutsch, «was viel Disziplin braucht, da mein Mann kaum Berndeutsch versteht».
Wie lange die georgisch-schweizerische Familie noch in Tbilisi bleibt, ist unklar. «Es ist eine Frage, die wir hinausschieben. Die Prognosen für das Land sind schwierig. Kann sein, dass wir, wenn die Kinder älter sind, in die Schweiz ziehen. Vorerst aber bleiben wir in diesem Land mit seiner schwierigen geografischen Lage und Vergangenheit und dem grossen Nachbarn, in einem Land, das sich Richtung Westen orientiert, gleichzeitig aber sehr patriarchalisch ist und auch etwas Archaisches hat.»
Schweiz – Georgien
Seit 1996 besteht in Tbilisi ein Kooperationsbüro der Schweizer Entwicklungs-Zusammenarbeit.
2001 wurde die Schweizer Botschaft in Georgien eröffnet.
Seit 2011 hat Georgien eine Botschaft in Bern.
Nach dem bewaffneten Konflikt von 2008 übernahm die Schweiz im März 2009 die Vertretung der diplomatischen Interessen Georgiens in Moskau und der Russischen Föderation in Tbilisi.
Zur Zeit sind in Georgien 62 Schweizer Staatsangehörige registriert.
Der Handel zwischen Georgien und der Schweiz ist auf tiefem Niveau: Die Schweiz exportierte 2014 Waren für 44,9 Mio. Schweizer Franken und importierte georgische Güter für 1,6 Mio.
Auch die Investitionen nach Georgien sind gering: 2013: 17 Mio. Dollar, 2014: 5 Mio. Dollar.
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