Das Stimmrecht war erst der Anfang
In Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter ist die Schweiz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern alles andere als ein Vorbild. Seit der späten Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 haben die Schweizer Frauen jedoch einen Grossteil der verlorenen Zeit aufgeholt und viele Erfolge erzielt. Ein neues Buch zeichnet die Kämpfe und Errungenschaften der Frauen in den letzten 50 Jahren nach.
«Wir stehen hier nicht als Bittende, sondern als Fordernde […] Wir Schweizerinnen hier auf dem Bundesplatz fordern das volle Stimm- und Wahlrecht auf eidgenössischer und kantonaler Ebene.»
Mit diesen Worten rief Emilie Lieberherr 1969 eine Gruppe von 5000 Frauen nach Bern, um endlich, wie in allen anderen europäischen Ländern, das Frauenstimmrecht zu erlangen. Diese Rede und diese Versammlung, der Marsch auf Bern, gingen in die Geschichte ein.
Im Jahr 1971 durften Schweizerinnen zum ersten Mal auf nationaler Ebene an die Urnen gehen. Unmittelbar danach zogen die ersten Frauen – eine spärliche, aber kämpferische Minderheit – ins Parlament ein.
Ein neues Buch ‹Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971-2021› vom Zürcher Verlag ‹Hier und Jetzt› beleuchtet diesen Kampf für das Frauenstimmrecht und bietet gleichzeitig einen Überblick über die letzten 50 Jahre der Geschichte der Frauen und des Feminismus in der Schweiz.
Ein später Sieg
Das Buch wurde von Denise Schmid herausgegeben und enthält Beiträge von sechs Historikerinnen, die in verschiedenen Berufsfeldern tätig sind. Jede von ihnen hat sich mit einem Jahrzehnt Frauengeschichte seit den 1970er-Jahren befasst, mit Ausnahme von Caroline Arni, die sich mit der Zeit vor der Einführung des Frauenstimmrechts beschäftigte. Tatsächlich begann der Kampf um das Stimm- und Wahlrecht im 19. Jahrhundert, auch wenn es nicht die einzige Forderung der Frauen war.
Laut Arni, Professorin an der Universität Basel, haben die feministischen Pionierinnen nicht nur für politische Rechte gekämpft. «Es hat viele Frauen gegeben, die sich für unterschiedliche Anliegen im zivilen und wirtschaftlichen Bereich eingesetzt haben.»
Sie weist auch auf die möglichen Ursachen für die verspätete Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz hin: Erstens hätten die Frauen dem Kampf für bürgerliche und wirtschaftliche Rechte Priorität eingeräumt. Und zweitens habe das Frauenstimmrecht nicht – wie in anderen Ländern – durch das Parlament eingeführt werden können, sondern nur über eine Volksabstimmung.
Das Stimmrecht war deshalb nicht für alle Frauen in der Schweiz eine Priorität. Ab 1968 gab es sogar eine Spaltung innerhalb der Frauenbewegung: Auf der einen Seite gab es die Front, die für das Frauenstimmrecht kämpfte und deshalb die volle Integration in das gegenwärtige politische System forderte. Auf der anderen Seite gab es feministische Gruppen, die eine stark gesellschafts-, macht- und systemkritische Haltung einnahmen.
Diese Dynamik hat laut der Historikerin Elisabeth Joris die ganzen 1970er-Jahre geprägt. «Die neue Frauenbewegung, die auf der Welle von ’68› geboren wurde, war Teil eines transnationalen feministischen Netzwerks, in dem andere Themen als das Stimmrecht dominierten: Abtreibung, Sexualität, Körperlichkeit, die Diskussion der Geschlechterrollen…»
Eine internationale Bewegung
Die Geschichte der Frauen in der Schweiz kann man nicht analysieren, ohne den internationalen Kontext zu berücksichtigen. Tatsächlich haben die feministischen Kämpfe in der Schweiz oft einen starken Impuls von internationalen Bewegungen erhalten.
Laut Arni hatte die feministische Bewegung ab dem 19. Jahrhundert und während der folgenden Jahrzehnte einen starken internationalen Charakter. Für Joris ähnelte die Neue Frauenbewegung, die an der Wende der 1960er- und 1970er-Jahre entstand, in gewisser Weise der heutigen Klimabewegung, da sie «eine informelle, nicht-institutionelle Organisation hatte und auf internationaler Ebene operierte».
In den letzten Jahrzehnten haben das Internet und die sozialen Medien dazu geführt, dass Frauen aus der Schweiz sich noch besser über die Landesgrenzen hinaus vernetzen können. Vor allem die Vereinigten Staaten scheinen zu den einflussreichsten Kontexten für den Schweizer Feminismus zu gehören.
Angelika Hardegger, Historikerin und Journalistin der Neuen Zürcher Zeitung, sagt: «Der Einfluss der internationalen feministischen Bewegungen auf die Schweiz in den letzten Jahren war wirklich bemerkenswert. Die ‹#Metoo›-Bewegung ist das bekannteste Beispiel, aber nicht das einzige.»
Auch der Women’s March sei in den USA als Reaktion auf die Wahl von Donald Trump geboren und 2017 von einigen feministischen Gruppen in die Schweiz importiert worden. «Der ‹Women’s March› hat sich zu einem der wichtigsten feministischen Proteste der letzten Jahre entwickelt.»
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Wie Ausländerinnen die Emanzipation in der Schweiz förderten
Historisch gesehen sind die feministischen Bewegungen in der Schweiz nicht nur von ausländischen Bewegungen beeinflusst worden, sondern haben auch einen entscheidenden Beitrag von Migrantinnen erhalten.
Anja Suter, Doktorandin an der Universität Basel, sagt: «Migrantinnen in der Schweiz haben in der Debatte um die Gleichstellung der Geschlechter immer eine wichtige Rolle gespielt. So waren es beispielsweise Arbeiterinnen, vor allem aus Italien, Spanien, Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien, die 1975 eines der fortschrittlichsten feministischen und antirassistischen Manifeste veröffentlichten.»
In diesem ‹Manifest der ausländischen Frauen› forderten sie unter anderem die Einführung einer Mutterschaftsversicherung, einen besseren Schutz für Frauen in allen Berufssparten, mehr Kindergärten und Horte für Kinder, flexiblere Arbeitszeiten für Männer und Frauen, ein Ende der Lohndiskriminierung und die sofortige Abschaffung des Saisonstatus, der eine Familienzusammenführung unmöglich machte.
Herausforderungen des neuen Jahrtausends
Viele der feministischen Forderungen im Manifest der Migrantinnen sind erst vor kurzem Wirklichkeit geworden.
Leena Schmitter, Historikerin und Sprecherin der Gewerkschaft Unia, analysierte, was die Schweizerinnen zu Beginn des neuen Jahrtausends erreicht haben. Zahlreiche Gesetze sind erlassen worden, die Forderungen der Frauen betreffen.
Neben der Einführung einer Mutterschaftsversicherung, der Verbesserung der Kinderbetreuung und der Verlängerung der Schulzeiten gab es Veränderungen in den Bereichen Abtreibung, Eherecht und häusliche Gewalt, die zu einem Offizialdelikt geworden ist.
Der Beginn der 2000er Jahre markierte auch einen Wendepunkt für homosexuelle Männer und Frauen. «2007 trat das wichtige Gesetz über eingetragene Partnerschaften in Kraft, das die Homo-Ehe zumindest im Steuer-, Renten- und Erbrecht der Ehe zwischen Heterosexuellen gleichstellt», so Schmitter.
Laut Schmitter konnten in diesem Jahrzehnt bedeutende Fortschritte im Gebiet der Geschlechtergleichstellung erreicht werden. Aber es bestünden auch heute noch Probleme: «Die Erfolge, die in den letzten Jahren bei der Gesetzgebung erzielt wurden, stehen im Gegensatz zu den diskriminierenden Erfahrungen, die Frauen tagtäglich machen. Ein auffälliger Fall ist die Lohnungleichheit, ein immer wiederkehrendes Thema für Feministinnen in der Schweiz, das auch heute noch von den Statistiken des Bundes bestätigt wird.»
Gerade die Frage der Lohnungleichheit brachte die Frauen in der Schweiz dazu, am 14. Juni 2019 zu streiken. Damit wurde ein neues Kapitel geschrieben in der Geschichte des nun schon über ein Jahrhundert andauernden Kampfes.
Sibilla Bondolfi
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