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Coronavirus: Was gilt in der Schweiz als «essenziell»?

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Sind diese Waren lebensnotwendig? Ein Kiosk am Bahnhof Bern, am 23. März 2020. Keystone / Anthony Anex

Die Schweiz geht bei der Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus zwar nicht so weit wie Italien, hat aber alle Tätigkeiten und Aktivitäten verboten, die als nicht "zwingend erforderlich" gelten. Eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, was für die Gesellschaft wirklich wichtig ist, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Sergio Rossi.

Geschäfte, Märkte, Restaurants, Bars, Museen, Bibliotheken, Kinos, Konzertsäle, Theater, Sportzentren, Schwimmbäder, Coiffeursalons, Schönheitssalons und Skigebiete: Vom 17. März bis 19. April sind alle diese Einrichtungen in der Schweiz geschlossen. Nach Ansicht der BehördenExterner Link handelt es sich dabei um «nicht zwingend erforderliche» Aktivitäten, auf die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit verzichtet werden kann.

Auf die Folgen dieser Entscheidung für Angestellte und Selbständigerwerbende nimmt diese Liste keine Rücksicht. Wie könnte ein Sportzentrum oder Theater angesichts der hohen Ansteckungsgefahr des Coronavirus die Gesundheit der Besucher garantieren?

Überraschend sind, zumindest auf den ersten Blick, die noch erlaubten und daher implizit als grundlegend für die Gesellschaft angesehenen Aktivitäten. Niemand bezweifelt, dass Lebensmittelgeschäfte oder Apotheken geöffnet bleiben müssen. Aber auch Take-aways, Garagen und Kioske dürfen weiterhin geöffnet haben, wenn sie die Regeln der Hygiene und des «Social Distancing» einhalten.

Diese Ausnahmen überraschen Sergio RossiExterner Link, Professor für Makroökonomie an der Universität Freiburg. «Die Definition des zwingend Erforderlichen ist subjektiv und hängt davon ab, wie die menschlichen Bedürfnisse eingestuft werden», erklärt er gegenüber swissinfo.ch.

«Auch Bildung ist ein wesentliches Gut, aber die Schulen wurden geschlossen», stellt der Ökonom fest. «Die derzeitigen politischen Entscheidungen haben in erster Linie die körperliche Gesundheit der Menschen berücksichtigt und bei Kiosken und Raucherwaren ein Auge zugedrückt.» Je nach Interpretation könne auch Tabak als wesentliches Gut angesehen werden, so Rossi.

Aus wirtschaftlicher Sicht, so fährt er fort, sind die einzigen wirklich wesentlichen Aktivitäten diejenigen, die primäre, lebenswichtige Bedürfnisse befriedigen. Also Lebensmittelproduktion, vom Bauern bis zum Detailhandel, und Gesundheitsdienste.

Eine Balance finden

Laut Rossi hängt die Definition der zwingend erforderlichen Aktivitäten ganz allgemein vom Grad der Entwicklung einer Gesellschaft ab. «Die heutige Schweizer Gesellschaft ist nicht mehr die gleiche wie vor hundert Jahren. Und sie unterscheidet sich auch von jener eines afrikanischen Landes heute. Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus, des Finanzmarkt-Kapitalismus und der Globalisierung seit den 1980er-Jahren haben sich die als wesentlich erachteten Bedürfnisse geändert und sind nun zahlreicher geworden. Wer könnte beispielsweise ohne das Internet auskommen?»

Bei der Überlegung, was wesentlich ist oder nicht, müsse auch die Struktur der Bevölkerung berücksichtigt werden, fügt Rossi hinzu. «Es gibt Junge und Alte, Männer und Frauen, wohlhabende Menschen und Gruppen mit niedrigem Einkommen. Im Alter ist die Gesundheitsversorgung wichtiger, während die Bildung für Kinder und Jugendliche nützlicher ist. In einer komplexen und sich entwickelnden Gesellschaft muss das richtige Gleichgewicht gefunden werden.»

Bei der Wahl der Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus seien diese Unterscheidungen nicht getroffen worden, stellt Rossi fest. «Aber es ist nur fair, da das Virus jeden befallen kann.» Wichtig sei, dass die Gesellschaft und jeder Einzelne wisse, was wirklich wichtig sei, wenn die Krise vorbei ist.

«Das ist die Lektion, die wir lernen sollten: Verstehen, was wirklich wichtig ist und was im Leben eines Menschen und in der Gesellschaft als Ganzes zweitrangig ist. Wir sollten über die Tatsache nachdenken, dass der Mensch in einer Gemeinschaft leben muss. Jeder braucht den anderen», sagt Rossi.

«Darüber hinaus lehrt uns die gegenwärtige Krise, dass der Staat ein wesentlicher sozioökonomischer Akteur ist. Die Gesellschaft braucht einen starken Staat, der in der Lage ist, auf die menschlichen Bedürfnisse auf finanzieller, gesundheitlicher und kultureller Ebene zu reagieren.»
 

Was ist noch offen? Was geschlossen?

Die Schweizer Regierung hat beschlossen, dass neben den Einrichtungen des Gesundheitswesens folgende Einrichtungen geöffnet bleiben können: Lebensmittelgeschäfte, Kioske, Imbissbuden, Betriebskantinen, Mahlzeitendienste, Apotheken, Tankstellen, Bahnhöfe, Banken, Postämter, Hotels, Garagen und Telekommunikations-Dienstleister.

Auch kommerzielle Unternehmen können ihre Tätigkeit fortsetzen, müssen aber Massnahmen zum Schutz von Mitarbeitenden und Kunden ergreifen (Hygienemassnahmen und «Social Distancing»).

Der Kanton Tessin, der bisher die meisten Todesfälle verzeichnet hat, ist restriktiver vorgegangen und hat alle privaten Geschäfts- und Produktionsaktivitäten, einschliesslich der Baustellen, als unnötig angesehen.

In Italien hat die Regierung beschlossen, alle Produktionsaktivitäten bis zum 3. April einzustellen, mit Ausnahme der für das Land strategisch wichtigen. Zum Beispiel in den Bereichen Lebensmittel, Gesundheit und Hygiene.

(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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