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Gesellschaftlicher Prüfstein Personenfreizügigkeit

Gesamtarbeitsverträge auch für das Verkaufspersonal in Schuh- und Kleiderläden, fordert der Schweizerische Gewerkschaftsbund. RDB

In der Schweizer Bevölkerung schmilzt der Rückhalt des freien Personenverkehrs mit der EU. Arbeitgeber und Gewerkschaften stehen hinter den Massnahmen gegen Lohndumping, die ein weiteres Mal verschärft wurden. Beim Thema Mindestlöhne endet aber die Allianz.

Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, überfüllte Züge, verstopfte Strassen, Mangel an günstigem Wohnraum, Bevölkerungswachstum auf über 8 Mio. Einwohner: Immer mehr Schweizer verbinden diese Entwicklungen mit den Menschen aus der Europäischen Union (EU), die zum Arbeiten in die Schweiz gekommen sind.

«Die Skepsis gegenüber der Zuwanderung ist gewachsen, es gibt eine gewisse Erosion in der Akzeptanz des freien Personenverkehrs», räumt Thomas Daum, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, gegenüber swissinfo.ch ein. Die Bevölkerung beurteile die Personenfreizügigkeit nicht nur rational, vielmehr seien dabei auch Emotionen im Spiel, die ernst genommen werden müssten.

Dies empfiehlt sich vor dem Hintergrund zweier Volksinitiativen zur Begrenzung der Zuwanderung sowie der Erweiterung des freien Personenverkehrs auf Kroatien tatsächlich.

Sagen nämlich die Schweizer Stimmbürger an der Urne Ja zu dichteren Grenzen, will Brüssel nicht nur den freien Personenverkehr, sondern alle Bilateralen Verträge aufheben.

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Es steht viel auf dem Spiel 

Sozusagen zur «Beruhigung der Gemüter» hat deshalb die Schweizer Regierung jüngst die Ventilklausel auf alle EU-Länder ausgeweitet. Die Wirkung dieser Massnahme zur Zuwanderungs-Beschränkung ist aber äusserst gering und deren Dauer auf ein Jahr beschränkt. Ab Juni 2014 gilt demnach so oder so die volle Personenfreizügigkeit.

Es ist aber schon heute absehbar, dass die Freizügigkeits-Befürworter in den kommenden Abstimmungskämpfen die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne, Arbeitsbedingungen und Sozialstandards in der Schweiz ins Zentrum ihrer Argumentation stellen werden.

Das Instrumentarium wurde im laufenden Jahr um eine strengere Ausweispflicht für ausländische Selbständige sowie die Lohndeklarations-Pflicht für ausländische Betriebe weiter verschärft. Auf Mitte Jahr soll die erweiterte Solidarhaftung im Baugewerbe folgen. Erstunternehmer werden dann für die Einhaltung der Mindestlöhne in der gesamten Kette der Sub-Unternehmer verantwortlich sein.

2012 wurden mehr Lohnkontrollen im Rahmen der Flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr durchgeführt.

Dabei wurden mehr Verstösse bei ausländischen Betrieben aufgedeckt als im Vorjahr. Zugenommen hat allerdings auch die Zahl der meldepflichtigen Arbeitskräfte.

Zahlen 2012:

203’000 gemeldete Personen aus der EU für Einsätze von weniger als 90 Tagen (+13%). Rund 25% davon waren Selbständige.

152’000 Personen und knapp 40’000 Betriebe wurden auf Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen kontrolliert.

In Branchen mit Gesamtarbeitsverträgen vermuteten die zuständigen Kommissionen bei 42% der kontrollierten Entsendebetrieben (+9%) und bei 23% der kontrollierten Schweizer Betriebe Unterschreitungen der Mindestlöhne (-1%).

In den Branchen ohne GAV haben die Kommissionen bei 11% der Entsendebetriebe (-3%) und bei 10% der Schweizer Arbeitgeber (keine Veränderung) Unterbietungen der üblichen Löhne festgestellt.

«Zu wenig Kontrollen» 

Für eine Beurteilung der bereits umgesetzten Verschärfungen sei es noch zu früh, stimmen Gewerkschaften und Arbeitgeberverband überein. «Aber die von Bern vorgegebene Zahl der Kontrollen (das Seco vereinbart diese mit den Kantonen, die Red.) ist viel zu tief angesetzt, denn in der Metallbaubranche etwa ist die Quote bereits nach vier bis fünf Monaten erreicht», bemängelt Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).

Seine Hauptkritik: Trotz Verschärfung der Massnahmen und Ausbau der Kontrollen bestünden im Kampf gegen Lohndumping immer noch grosse Lücken, insbesondere in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV). «Obwohl hier 10% der Kontrollen grosse Lohnunterschreitungen ergaben, griff in der Deutschschweiz kein einziger Kanton zum Mittel der Normalarbeitsverträge, im Gegensatz zu lateinischen Kantonen», sagt Rechsteiner.

Die flankierenden Massnahmen sehen vor, dass die Kantone in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV) solche Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen können (siehe Infobox).

«Besonders krass ist das Lohnproblem im Detailhandel, der 80’000 bis 90’000 Beschäftigten beschäftigt» , so der SGB-Präsident. Nur die Branchenführer Migros und Coop verfügten über einen GAV. «Aber alle grossen Ketten von Schuh- und Kleiderläden wie H&M und Zara, deren Inhaber notabene Milliardäre sind, sind in der Schweiz ohne Gesamtarbeitsverträge.» Der SGB kämpft deshalb mit seiner Initiative «Keine Löhne unter 4000 Franken» für die Einführung von Mindestlöhnen.

Bund soll Mindestlöhne vorschreiben 

Auch die gemässigtere Gewerkschaft Travail.Suisse fordert Regelungen für Mindestlöhne, die über die verschärften flankierenden Massnahmen hinaus gehen. Aber im Gegensatz zu SGB-Kollege Rechsteiner will Travail-Suisse-Präsident Martin Flügel nicht bei den Kantonen, sondern direkt in Bern ansetzen. «Es wäre sinnvoll, wenn der Bund den Kantonen vorschreiben könnte, Mindestlöhne zu erlassen, ohne dass zuerst wiederholter Missbrauch nachgewiesen werden muss. Dies würde Klarheit schaffen, gerade auch für ausländische Unternehmen», ist Flügel überzeugt.

Arbeitgeberverbands-Direktor Daum hält die verschärften Kontroll-Bestimmungen für ausreichend. «Aber wir wehren uns dagegen, dass die flankierenden Massnahmen missbraucht werden, um Lohn- und Sozialleistungspolitik zu betreiben, wie es die Gewerkschaften machen.» Jene seien als Instrumente konzipiert worden, um im freien Personenverkehr Lohndumping zu bekämpfen, nicht um Mindestlöhne festzusetzen, hält Daum fest.

Der «Demographie-Buckel» (steigende Anzahl Rentner, stagnierende Zahl der Personen im arbeitsfähigen Alter) verlangt laut Flügel nach einem offenen Arbeitsmarkt. Die Schweiz müsse aber auf einen solchen vorbereitet sein, also Investitionen in die Infrastruktur tätigen und Anpassungen in der Wohnbaupolitik und der Raumplanung vornehmen, sagt Flügel. «Heute leben mehr Menschen in der Schweiz als vor zehn Jahren. Gleichzeitig Wirtschaftswachstum, den Ausbau von Infrastruktur, ein hochstehendes Gesundheitswesen und tiefere Steuern zu fordern, geht auf die Dauer nicht.»

Die flankierenden Massnahmen sehen vor, dass Kantone in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag (GAV) Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen können.

Grundlage dafür ist das Schweizer Obligationenrecht (Artikel 360a), das für alle Arbeitgeber gilt.

Voraussetzung dafür ist eine wiederholte missbräuchliche Lohnunterbietung, festgestellt bei Kontrollen.

Sog. Tripartite Kommissionen mit Vertretern von Kanton, Arbeitgebern und Gewerkschaften müssen den Kantonen eine Empfehlung abgeben, einen Normalarbeitsvertrag zu erlassen.

Sehr tiefe Löhne haben die Tripartiten Kommissionen etwa im Kanton Aargau im Gartenbau festgestellt. Im Detailhandel (Verkauf) wurden im Kanton Bern Monatslöhne für Ungelernte von unter 3000 Franken angetroffen.

Dennoch gab es in beiden Kantonen bisher keine Empfehlung auf Einführung eines Normalarbeitsvertrags. In den Tripartiten Kommissionen seien Kantonsvertreter und Arbeitgebervertreter dagegen, kritisieren die Gewerkschaften.

Normalarbeitsverträge haben erst drei Kantone eingeführt: Genf für die Branchen Kosmetik und Hauswirtschaft, Tessin für Schönheitssalons, Callcenter und Autowartung und das Wallis für Bauhauptgewerbe, Unterhalt und Reinigung.

«Löhne nicht gesunken» 

Losgelöst von diesem sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss mit Rissen ist die Position von George Sheldon. Der Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie an der Universität Basel hält nämlich die flankierenden Massnahmen für «in gewisser Hinsicht überflüssig».

Seine Untersuchungen über die Auswirkungen des freien Personenverkehrs mit den 17 «alten» EU-Ländern hätten «entgegen den Befürchtungen» kaum Auswirkungen auf die Höhe der Löhne ergeben. «Der einzige negative Effekt konnte bei eingesessenen Niedrigqualifizierten beobachtet werden, die aus Nicht-EU-Staaten, v.a. dem ehemaligen Jugoslawien, stammten», sagt er.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft des Bundes (Seco) teilt Sheldons Befund und spricht von einer Lohnentwicklung und -verteilung in der Schweiz zwischen 2002 und 2010, die «über weite Strecken relativ ausgewogen und über die Zeit erstaunlich stabil» verlaufen sei.

Sheldon betont weiter, dass die Schweiz kein klassisches Einwanderungsland wie etwa die USA und Kanada sei, wo der Arbeitsmarkt die zugewanderten Arbeitskräfte absorbieren müsse, was zu einem Lohnzerfall führe. «In die Schweiz kommen Zuwanderer nicht ungefragt. Sie werden vielmehr gerufen, um Arbeitsplätze zu besetzen, für die in der Schweiz keine Arbeitnehmer existieren. Deshalb stellen sie für den heimischen Arbeitsmarkt auch keine Konkurrenz dar», so Sheldon.

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