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Wenn die Schweiz ihre Arbeitslosen nach Deutschland schickt

Grenzgänger in Autos an der deutschen Grenze
In der Region Basel bewegt sich der Strom der Grenzgänger vor allem aus Deutschland und Frankreich in die Schweiz. Keystone / Georgios Kefalas

Mehrere Deutschschweizer Kantone ermutigen ihre Arbeitslosen, sich auf der anderen Seite der Grenze nach Arbeit umzuschauen. Die Betroffenen zeigen sich irritiert. Die Gewerkschaften reagieren besorgt.

«Wohnen in der Schweiz – Arbeiten als Grenzgänger in Deutschland.» So betitelte das Amt für Wirtschaft und ArbeitExterner Link (AWA) des Kantons Basel-Stadt die Einladung zu einem Informationsanlass. Das Ziel: Das Bewusstsein für die Besonderheiten des deutschen Arbeitsmarkts schärfen und lernen, wie man eine Bewerbungsmappe schreibt, welche die Aufmerksamkeit eines potenziellen Arbeitgebers auf der anderen Seite der Grenze auf sich ziehen kann.

«Es handelt sich um einen Informationsanlass, der sich an freiwillig interessierte Stellensuchende richtet, die ihre Kenntnisse über den deutschen Arbeitsmarkt erweitern wollen», antwortete das AWA auf eine Anfrage der Tageszeitung Blick, die Anfang dieser Woche darüber berichteteExterner Link. Das AWA ergänzte aber, die Einladung sei «vornehmlich an Personen Ü50» geschickt worden.

Der Kanton Basel-Stadt verzeichnet mit 3,3% die höchste Arbeitslosenquote der gesamten Deutschschweiz. Im Unterschied dazu weisen die grenznahen deutschen Regionen eine Arbeitslosenquote von gut 2% auf. Wohl daher rührt der Wunsch der Basler Behörden, die lokalen Arbeitslosen zu ermutigen, dort Arbeit zu suchen, wo das Gras grüner ist.

«Krankes System»

Die Angeschriebenen allerdings reagierten mit Unverständnis. «Es ist grotesk. Basel wird von Grenzgängern überflutet. Schweizer Arbeitslose wie mich schickt man dafür zum Arbeiten nach Deutschland. Dieses System ist doch krank», zitierte der Blick einen 53-jährigen Arbeitslosen, der bald keinen Anspruch mehr auf Zahlungen aus der Arbeitslosenkasse haben wird.

Auch in den Online-Kommentaren der Deutschschweizer Zeitungen waren die Reaktionen geharnischt. «Wie die Behörden inzwischen mit den Schweizer und Schweizerinnen umgehen, ist eine Unverschämtheit! So ein Benehmen schürt am Schluss nur Hass gegen die Ausländer und wird nicht gut gehen», schrieb eine Leserin auf Blick.chExterner Link.

«Es wäre untragbar und rechtlich nicht zulässig, Arbeitssuchende aus der Schweiz in andere Länder zu schicken» Lucas Dubuis, Gewerkschaft Unia

Die Gewerkschaften warnen vor den Grenzen dieser Praxis. «Wenn jemand aus eigener Initiative nach einer Stelle im Ausland suchen möchte, kann eine solche Informationsveranstaltung sinnvoll sein. Aber unter keinen Umständen darf es eine Einschränkung sein. Es wäre untragbar und rechtlich nicht zulässig, Arbeitssuchende aus der Schweiz in andere Länder zu schicken», sagt Lucas Dubuis, Sprecher der Gewerkschaft UniaExterner Link, gegenüber swissinfo.ch.

Das Ziel der Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) müsse sein, den Arbeitsuchenden im schweizerischen Wirtschaftssystem unter menschenwürdigen Bedingungen eine Arbeit zu finden, so der Vertreter der grössten Schweizer Gewerkschaft.

Zudem gibt Dubuis zu bedenken, dass die Löhne in der Schweiz höher seien als im Süden Deutschlands. «Es wäre deshalb inakzeptabel, wenn eine normal qualifizierte Person in Deutschland arbeitet, aber unter anderem Miete und Krankenversicherung zum Schweizer Tarif bezahlt», sagt er.

Ältere Arbeitnehmende besser akzeptiert

Basel-Stadt ist nicht der einzige Kanton, der solche Veranstaltungen durchführt. Unter dem genau gleichen Titel hat auch der Grenzkanton Aargau für Mitte Mai rund 200 Personen zu einem InformationsanlassExterner Link eingeladen. Dies berichtete das Schweizer Radio und Fernsehen SRFExterner Link am Donnerstag.

«Wir haben die Personen sehr spezifisch angeschrieben», zitierte SRF Isabelle Wyss, Leiterin der Sektion Arbeitsmarktliche Integration beim Kanton Aargau. Die Zielgruppe seien Menschen, die bereits seit einiger Zeit arbeitslos seien, im Norden des Kantons an der Grenze zu Deutschland wohnten und über 50 Jahre alt seien.

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Deutsche Arbeitgeber sind angeblich eher geneigt, ältere Arbeitnehmer einzustellen, deren Wiedereingliederung in den Schweizer Arbeitsmarkt oft sehr kompliziert ist. «In Deutschland sind die Arbeitgeber offener gegenüber älteren Arbeitnehmern, 50+ ist hier kein so grosses Thema wie in der Schweiz», wurde Wyss zitiert.

Allerdings kann das Lohngefälle – in einigen Berufen kann es manchmal den Faktor zwei erreichen – zwischen der Schweiz und Deutschland auch die motiviertesten Schweizer Arbeitslosen entmutigen. Um dies auszugleichen, vergüte der Kanton mit Ausgleichszahlungen einen Teil der Differenz. Dadurch erhalte man gleich viel Geld wie als Arbeitsloser in der Schweiz, betonte Wyss.

Wenige Grenzgänger in Gegenrichtung

Tatsächlich sind aber nur wenige Schweizerinnen und Schweizer daran interessiert, auf der anderen Seite der Grenze einer Arbeit nachzugehen. Während 60’000 deutsche Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz arbeiten, gehen nur wenige in die andere Richtung. So verzeichnete etwa die am Rhein gelegene Region Baden nördlich von Basel im Jahr 2016 um die 500 Arbeitnehmende aus der SchweizExterner Link, während gleichzeitig 36’500 Deutsche im Nordwesten der Schweiz arbeiteten.

In anderen Regionen des Landes ist die Situation ähnlich: Insgesamt 23’000 in der Schweiz lebende Personen arbeiten laut dem Bundesamt für StatistikExterner Link (BFS) im Ausland. Das BFS verfügt jedoch nicht über genaue Statistiken pro Land. Der Grossteil der Schweizer Grenzgänger ist in Liechtenstein tätig: Rund 10’000 Schweizerinnen und Schweizer machen sich täglich auf ins Ländle.

Diese «Grenzgänger in Gegenrichtung» bleiben aber eine sehr kleine Minderheit, denn sie stehen mehr als 320’000 europäischen Arbeitnehmenden gegenüber, die zum grössten Teil täglich die Grenze überschreiten, um von den hohen Schweizer Löhnen zu profitieren.

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Kontaktieren Sie den Autor dieses Artikels auf Twitter: @samueljabergExterner Link

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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