«Was, wenn eins plus eins plötzlich drei ergibt?»
"Die Grenze als Chance sehen" – das ist das Motto von Pascal Moeschler, Schweizer Naturwissenschaftler und Grenzgänger zwischen dem beschaulichen französischen Dorf Évires und seinem Arbeitsplatz im Naturhistorischen Museum Genf. Für den dreifachen Vater ist es eine Lebenseinstellung, die er im Alltag konsequent umsetzt.
Halb acht Uhr, Freitagmorgen: swissinfo.ch begleitet Pascal Moeschler auf seinem Arbeitsweg zwischen dem Departement Hochsavoyen und dem Kanton Genf.
«Der Grossraum Genf ist ein grosses Zukunftsprojekt»
Als Konservator und Kommunikationsverantwortlicher des Naturhistorischen Museums – und als Spezialist für Fledermäuse – hat der Biologe in seinem Beruf die Möglichkeit, seine Leidenschaft für Naturschutz und Öffentlichkeitsarbeit zu vereinen. Am 25. August veranstaltete er die «Nacht der Fledermäuse» im Naturhistorischen Museum Genf, die über tausend Besucher anzog.
Moeschler ist ebenfalls der Entdecker der «Gelyella Monardi», eines mikroskopisch kleinen Ruderfusskrebses, der nur in der Region um Neuenburg zu finden ist. Er bemüht sich, das Habitat dieser seltenen Tierart zu schützen. Auf seine Initiative wurden die winzigen Tiere in den regionalen Medien bekanntgemacht und als «Naturbotschafter» der Region vermarktet.
Aus der Grenze einen Mehrwert generieren
Moeschler ist ein Unternehmergeist, Umweltaktivist und überzeugter Grenzgänger. Auf der Fahrt von Frankreich über die Grenze schildert er, was für ihn das Wesen der Grenze ausmacht und erinnert an das enorme Potenzial der Grenzregion. So seien die Bauarbeiten an der Bahnverbindung Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse nach jahrzehntelangem Zögern nun endlich auf Kurs. Dies sei nicht nur symbolisch ein Schritt, sondern auch ein konkretes Mittel zur besseren Nutzung und Überquerung der Grenze. Als wir gerade von Grossprojekten sprechen, erwähnt der Wissenschaftler ganz beiläufig, dass das CERN eigentlich das grösste Denkmal dieser grenzüberschreitenden Grossregion sei. «Der Grossraum Genf ist ein grosses Zukunftsprojekt.»
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Genf straft Populismus auf dem Buckel der Grenzgänger ab
Anstatt die Grenze als Mauer zu betrachten, sieht er sie als Teil der Schweizer Geschichte und der DNA des Landes:
«Was, wenn plötzlich eins plus eins drei ergibt? Vielleicht ist die Gesamtheit der beiden Grenzen ja mehr als bloss ihre Summe! Mit Grenzen und ihrer Wirkung zu leben, liegt in unserer DNA, ist im Kern der Schweizer Identität verankert. Grenzen zu überqueren ist eine Schweizerische Kernkompetenz, die uns seit jeher befähigt, einen Konsens zu finden und Kompromisse zu schliessen, ohne dabei allzu grosse Zugeständnisse machen zu müssen.»
Grenzgänger aus Überzeugung
Moeschler hält fest, dass er aus dem Wunsch heraus, auf dem Land zu leben und nicht aufgrund von ökonomischem Zwängen entschieden hat, Grenzgänger zu sein. Vor 23 Jahren, bei der Geburt des ersten Kindes, ist er nach Frankreich gezogen. Für ihn ist es ein Bekenntnis zum Kanton Genf, der zu 90 Prozent von Frankreich umgeben ist. Natürlich ist dieses Arrangement für ihn und seine Familie mit den einen oder anderen Schwierigkeiten und administrativen Hürden verbunden. «Doch als Grenzgänger bin ich stärker sozial engagiert», sagt er.
Als Kind, aufgewachsen im Jura nahe Frankreich, sei ihm die Grenze schon immer sehr bewusst gewesen. Dass er nach Frankreich aufs Land gezogen ist, sei auch für seine berufliche und akademische Leidenschaft, die Biologie, ideal gewesen. Gerade in der Gegend um Évires in Hochsavoyen sei die Natur noch sehr intakt und die Ökosysteme schutzbedürftig. Für ihn sei es als Konservator quasi eine Pflicht, diesen Raum zu studieren, zu schützen und zu pflegen, auch ausserhalb seiner Arbeitszeit. Er habe in seinem Garten sogar eine sehr seltene Spitzmaus-Spezies gefunden, die seit Jahrzehnten nicht mehr in der Gegend gesehen wurde.
Moeschler lanciert immer wieder neue Naturschutzprojekte, die in der Bevölkerung für Reaktionen sorgen: so habe die Stadt Genf kürzlich seinen Antrag für einen grenzüberschreitenden «Verdunkelungskorridor» gutgeheissen. Diese Aktion soll die Menschen darauf aufmerksam machen, dass die Lichtverschmutzung vielen Tieren schadet. Denn die Grenzregion sei ein wahres Juwel in Sachen Biodiversität. Und da Tiere bekanntlich keine Grenzen kennen, soll selbstverständlich sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich entlang einer bestimmten Route das Licht für eine Nacht komplett verschwinden. Geplant ist die Aktion für das Jahr 2019.
«Ohne gleichzeitig in der Schweiz und in Frankreich ein Standbein zu haben, wäre es mir sicher nicht gelungen, die Problematik der Biodiversität so effektiv aufzugreifen und zu dynamisieren.»
Nicht problemfrei
Natürlich sieht auch Moeschler beim Grenzgänger-Thema einige Herausforderungen. Beispielsweise habe das Genfer Stimmvolk bedauerlicherweise der Mitfinanzierung einer grossen ParkplatzanlageExterner Link nicht zugestimmt, weil diese auf französischem Boden gebaut hätte werden sollen – «ein Rückschlag», betont er.
«Als Grenzgänger bin ich stärker sozial engagiert»
«Um eine gute Zusammenarbeit hinzubekommen, muss man weitsichtig in die Zukunft schauen. In der Grenzregion ist die Stadt Genf klar der grösste Arbeitgeber, doch Wohngelegenheiten gibt es in Frankreich deutlich mehr. Natürlich gibt es wie anderswo auch Probleme mit den teils stark unterschiedlichen Lohnniveaus. Mein wichtigstes Anliegen ist es, dass die Grenzgänger am Leben in Genf teilhaben können – und auch wollen.»
Nicht zuletzt sei die komplexe Geschichte zwischen Frankreich und Genf auch von konfessionellen Spannungen geprägt gewesen: Nach dem Sonderbundskrieg waren die calvinistische Hochburg Genf und die protestantischen Kantone nicht gewillt, die katholische Region Hochsavoyen in die Eidgenossenschaft aufzunehmen. «Diese Spannungen sind jedoch längst vergessen. Aber sie erinnern uns daran, dass die gesamte Region auch zur Schweiz hätte gehören können. Nehmen wir das doch zum Anlass, gemeinsam die Zukunft zu gestalten.»
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