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Ein Gesetz und die Liebe trieben sie in die Schweiz

Porträt Ajla Hadziavdic
Ajla Hadziavdic (25) beendete im Januar 2018 ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Nach mehreren Stellvertretungen begann sie am 20. August das neue Schuljahr als Oberstufenlehrerin für Mathematik und Naturwissenschaften an der Realschule Balzers. Mattia Balsiger

Wenn man von Grenzgängern spricht, denkt man zunächst an das Tessin, an Genf, an Basel. Doch an der Grenze zu unserem kleinsten Nachbarn, dem Fürstentum Liechtenstein, ist es gerade umgekehrt. Nirgends ist die Quote der "Alltags-Migranten" so hoch wie im Ländle jenseits des Rheins. swissinfo.ch hat sich mit einer von ihnen getroffen.

An einem der letzten heissen Tage dieses Sommers treffe ich Ajla Hadziavdic auf dem Pausenhof der Realschule Balzers in Liechtenstein. Schnell wird klar – der Lehrerberuf und die frischgebackene Abgängerin der pädagogischen Hochschule harmonieren mindestens so gut wie Liechtenstein und die Schweiz. 

Obschon Ajla bei unserem Treffen erst einen Unterrichtstag auf dem Konto hat, hat man den Eindruck, die 25-jährige habe bereits etliche Schuljahrgänge betreut und sich im Lehrerkollegium schon bestens vernetzt. Mit selbstbewusster, gewinnender Haltung und ansteckendem Humor führt sie mich durch die kühlen Hallen des modernen Schulhauses.

Nach einem Kaffee treten wir wieder in die brennende Mittagssonne. «Schauen wir uns diese Brücke mal an», schlägt Ajla vor. Sie zeigt auf einen der neun Grenzübergänge über den Rhein, der die beiden Staatsgebiete verbindet. Die junge Lehrerin überquert ihn jeden Morgen mit dem Auto.

Unsichtbare Grenze

Wer die Grenze zu Frankreich, Italien oder Deutschland übertritt, merkt schnell: Polizeiwagen, Zollstationen und Barrieren sind trotz Freizügigkeit und Schengener Abkommen nicht vollends verschwunden.

Ganz anders sieht es an der 41 Kilometer langen Rheingrenze zu Liechtenstein aus. Auf dem Brückenübergang zwischen Eidgenossenschaft und Ländle ist von all dem keine Spur; dank der seit 1923 bestehenden Zollunion deutet ausser einem Schild mit Schweizer Wappen nichts auf eine Demarkation hin.

Grenzübergang Schweiz-Liechtenstein
Von Polizei und Zoll keine Spur: Grenzübergang über den Rhein. swissinfo.ch

Und trotzdem: Völlig hindernisfrei ist auch der Austausch zwischen der Schweiz und Liechtenstein nicht. Zumal anerkennt das Fürstentum nur eine Staatsbürgerschaft. Auch gibt es im liechtensteinischen System Einwanderungskontingente.

Und für Paare mit einem ausländischen Teil sind unter Umständen drei Jahre Partnerschaft und 84 000 Franken eine Voraussetzung, um im Fürstentum einen gemeinsamen Haushalt aufbauen zu können (siehe Infobox).

Freizügigkeit und Aufenthaltsbewilligungen

Die Freizügigkeit zwischen Liechtenstein und der Schweiz ist anders geregelt als zwischen der Schweiz und der EU. Eine Sonderregelung gewährt dem Fürstentum für EWR/EU-Staaten sowie für die Schweiz Kontingente. Für die Schweiz werden pro Jahr 17 Aufenthaltsbewilligungen erteilt. 72 Bewilligungen werden für Personen aus dem EWR vergeben. Der Rest der Arbeitnehmer aus dem EWR und der Schweiz setzt sich aus Familiennachzug und Grenzgängern zusammen.

Für unverheiratete Paare mit nur einer in Liechtenstein domizilierten Person besteht beim Partnernachzug eine Pflicht zur finanziellen Absicherung. Wer seinen Wohnsitz in Liechtenstein hat, muss für den/die Partner/in eine Bankgarantie von 84 000 Franken auf einem Sperrkonto hinterlegen. Da in gemeinsamen Haushalten keine gegenseitige Unterhaltspflicht besteht, dient diese Summe als Absicherung gegen einen eventuellen Sozialhilfebezug.

Umzug in die Schweiz

«Dies war für mich der Hauptgrund, in die Schweiz zu ziehen und von dort aus als Grenzgängerin in meine Heimat zu pendeln», sagt Ajla. «Noch vor einem Jahr wäre es für mich fast unvorstellbar gewesen, in der Schweiz zu wohnen, da ich sehr heimatverbunden bin.» 

Doch seit sie beschloss, mit ihrem Freund zusammenziehen, stellt sich dieses Problem für sie ganz konkret. Da das junge Paar die notwendigen hohen Auflagen nicht erfüllen konnte und noch gerade nicht ans Heiraten denkt, habe sich ein Wohnsitzwechsel in die Schweiz angeboten, meint die 25-jährige, die seit dem ersten Juni in Buchs SG lebt. Auch ihr Freund, ein bosnisch-schweizerischer Informatiker, ist Grenzgänger.

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Die Statistiken zu den aus dem Ausland stammenden Arbeitnehmern in Liechtenstein sprechen eine deutliche Sprache. Rund 53 % der gesamten Arbeitsbevölkerung pendelt aus den Nachbarländern ins Fürstentum.

«In unserer Schule besteht der Lehrkörper mit insgesamt  11 von 24 Personen fast zur Hälfte aus Grenzgängern aus der Schweiz und Österreich. In einigen anderen Schulen, in denen ich gearbeitet habe, waren es zum Teil noch mehr.»

Ob das Thema auch hier derart hohe Wellen schlage, frage ich und bringe das Tessin und den Grossraum Genf zur Sprache, wo heftige Debatten und Abwehrreflexe zu registrieren sind. Eine gewisse Aufregung verursache die Grenzgängerthematik auch in Liechtenstein, allerdings eher unter vorgehaltener Hand und in weitaus kleinerem Ausmass, sagt Ajla. Vor allem Österreichern und Deutschen werde vorgeworfen, mit tieferen Lohnforderungen die Liechtensteiner zu konkurrenzieren.

«In meinem Beruf merke ich als Grenzgängerin von diesem Unmut aber nichts. Ich bin ja noch in der speziellen Situation, dass ich als Ausländerin in der Schweiz lebe und in mein Heimatland pendle.»

In Liechtenstein daheim

Heimat ist in unserem Gespräch ein wichtiges Thema. Die Tochter von bosnischen Kriegsflüchtlingen fühlt sich durch und durch als Liechtensteinerin. Es stand für sie daher auch ausser Frage, die Staatsbürgerschaft zu beantragen.

«Unsere Familie hatte seit der Ankunft aus Bosnien 1992 bis 2001 ein humanitäres Visum aufgrund des Flüchtlingsstatus, was auch meine Passbeantragung verzögerte. Deshalb wurden meine hier verbrachten Jahre von der Geburt bis zum neunten Lebensjahr nicht angerechnet.» 

Um die Wartezeit bis zum für die Einbürgerung notwendigen dreissigsten Aufenthaltsjahr zu umgehen, stellte sich Ajla der Einbürgerungsprüfung der Gemeinde. «Ich hatte überhaupt keine Probleme beim Prozedere – dennoch schmerzt es sehr, wenn man sieht, dass  324 Leute gegen einen gestimmt haben. Immerhin bin ich hier geboren und bin nie negativ aufgefallen.»

Obschon Ajla betont, kaum schlechte Erfahrungen als «Ausländerin» gemacht zu haben, gab es ab und zu Rückschläge. «Als ich meine Aufenthaltsbewilligung von Kategorie B auf C (Niederlassungsbewilligung) wechseln wollte, sollte ich ein Dokument unterschreiben, das bezeugt, dass ich keine Stipendien beantragen würde. Diese Bedingung wollten meine Eltern nicht akzeptieren, da ihnen eine gute Ausbildung enorm wichtig war. So behielt ich zwar meinen B-Ausweis, kam aber in den Genuss von staatlicher Unterstützung, die mir geholfen hat, meine Lehrerausbildung ohne grosse Einschränkungen abzuschliessen.»

Grenzgänger in Gegenrichtung: Kaum bekannte Minderheit

«Es sind nur wenige, man kennt sie kaum, und trotzdem gibt es sie.» So definiert das «Groupement transfrontalier européen» (GTE) jene, die «Grenzgänger in Gegenrichtung» genannt werden, weil sie in der Schweiz leben und im Ausland arbeiten.

In der Region Genf leben laut GTE 500 Personen, die im Departement Hochsavoyen arbeiten.

Die Zahl sei stabil, sagt Laurence Coudière, Kommunikationsverantwortliche beim GTE: «Oft sind es französisch-schweizerische Paare, von denen eine Person ihre Wohnung in der Schweiz und die andere ihre Arbeit in Frankreich behalten will.»

Die meisten Grenzgänger in Gegenrichtung arbeiten in Liechtenstein. Rund 10’000 in der Schweiz lebende Personen gehen täglich dort zur Arbeit.

Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) lebten zwischen 2014 und 2016 rund 23’000 Personen in der Schweiz, die im Ausland einer Arbeit nachgingen. Etwas über die Hälfte waren Ausländerinnen und Ausländer, die anderen Schweizerinnen und Schweizer.

Damit hat sich die Zahl der Grenzgänger in Gegenrichtung innert 15 Jahren mehr als verdoppelt, denn zwischen 2002 und 2004 waren es rund 11’000 Personen.

Doch sie bleiben eine sehr kleine Gruppe, im Vergleich zu den etwa 320’000 Europäerinnen und Europäern, die fast täglich zur Arbeit vom Ausland in die Schweiz kommen.

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