Grosses China lernt von kleiner Schweiz
Direkte Demokratie, Sozialpolitik, Cleantech: Mit diesen Themen haben sich rund 30 chinesische Führungskräfte während eines dreiwöchigen Leadership-Seminars in der Schweiz befasst. Gäste und Gastgeber gewannen dabei teils überraschende Einsichten.
«Wir wollen nicht nach China expandieren, wir haben hier genügend Arbeit», sagt Josef Jenni.
Mit dem Gründer und Chef der Jenni Energietechnik AG aus Oberburg im Kanton Bern steht gewissermassen die Verkörperung des innovativen, bescheidenen und verantwortungsbewussten Schweizer Familien-Unternehmers vor den Gästen aus dem Reich der Mitte.
Dass sie bei ihrem Abstecher an die Pforte zum Emmental einen der europa- und weltweiten Pioniere der Solarenergie vor sich haben, wird ihnen bei seiner Präsentation klar: 1985 Initiant der Tour de Sol, einem Rennen für Solarmobile durch die Schweiz; 1989 Bau des ersten Hauses, das zu 100% mit Sonnenenergie versorgt wurde; 2007 Bau des ersten Mehrfamilienhauses, das zu 100% mit Solarenergie beheizt wird.
Was Josef Jenni nicht erwähnte: Er ist dreimaliger Gewinner des nationalen Solarpreises (1991, 1994, 2004), erhielt 2008 den Watt d’Or für sein Lebenswerk zugunsten der Solarenergie und wurde 2009 mit dem Energy Globe Award ausgezeichnet.
An komplexe Verfahren gewohnt
Die rund 30 höhere Regierungsbeamtinnen und -beamte aus mehreren Städten in der Provinz Jiangxi im Südosten Chinas folgen aufmerksam der Übersetzung von Jennis Ausführungen durch Yufan Jiang. Der Dozent für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz ist zusammen mit Professor Jürg Schneider vom dortigen Institut für Nonprofit- und Public Management verantwortlich für das reichbefrachtete Programm des Workshops.
Zu den Höhepunkten des Programms zählten die Bundesratswahlen. Sie hätten die Gäste vorgängig gut darüber ins Bild gesetzt, sagt Schneider, er habe den Eindruck gehabt, dass sie die Wahlen verstanden hätten. «Sie sind sich relativ komplizierte Prozesse des Aushandelns gewohnt, bevor ein Entscheid gefällt wird, der dann durchgesetzt wird. In dieser Hinsicht sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt», sagt er.
Der Unterschied liege aber darin, dass die Schweiz eine Demokratie von unten sei, während im paternalistischen System Chinas Entscheide von oben gefällt würden.
Sozialpolitische Lösungen gesucht
Für den grössten «Aha-Effekt» bei den Gästen haben aber laut Schneider nicht die Regierungswahlen gesorgt, sondern die Erkenntnis, dass Armut auch in der Schweiz existiert. Vertreter von Sozialbehörden und privaten Organisationen wie die Caritas haben vor der Delegation über Aspekte zu den Bereichen Armut, Alter oder der Integration von Behinderten berichtet. «Das sind Fragen, die sie brennend interessieren, weil sie diese Probleme auch haben», berichtet Jürg Schneider.
Er hat sich nicht getäuscht. «Bevor wir in die Schweiz kamen, dachten wir, dass es in diesem Land keine Armut und keine armen Menschen gibt», sagt die 40-jährige Xiaoyan Huang, Beauftragte für Aussenbeziehungen der Stadt Nanchang, die mit ihren fünf Millonen Einwohnern nicht zu den grösseren Städten zählt. «Was wir dann erfahren haben, hat uns sehr überrascht.» Man müsse aber das Phänomen in seinen Relationen sehen, sagt die zierliche Frau, die als fast einzige der Gruppe Englisch spricht.
Zu den politischen Eigenheiten der Schweizer Demokratie befragt, bricht ihre energische Stimme ab. «Very interesting», tönt es formelhaft.
Schneiders Kollege Yufan Jiang, der auch als Übersetzer fungiert, schliesst nicht aus, dass die Kontakte auf dem Gebiet der Sozialpolitik fortgesetzt werden. «Sie sind sehr an einer Zusammenarbeit interessiert, denn die Bekämpfung von Armut und die Integration von Behinderten sind drängende Themen auch in China.»
Kritisches zu Nordkorea
Zu kulturübergreifenden Diskussionen Anlass gab auch ein Ereignis ausserhalb des Kurs-Programms: Der Tod des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il und die wahrscheinliche Machtübernahme seines Sohnes Kim Jong Un. «Ich hatte den Eindruck, dass die Wahrnehmung der Gäste gar nicht so verschieden von der unsrigen ist», so Jürg Schneiders Eindruck. «Auch sie haben eine sehr kritische Sicht auf Nordkorea. Sie sind sehr besorgt, dass von dort etwas auf sie zukommt, das sie nicht kontrollieren können.»
Im Vortrags- und Schulungsraum der Firma Jenni realisieren die Gäste rasch, dass der Swiss Solartank, den der Pionier erfunden hat und nun mit grossem Erfolg auch in Deutschland verkauft, für sie nicht die Lösung aller Umwelt- und Energiefragen darstellt.
Der Energiespeicher in Form eines überdimensionierten Boilers mit bis zu 100’000 Liter Inhalt und mehr mag zwar mittlerweile Mehrfamilienhäuser mit purer Sonnenenergie zu versorgen. Doch in den chinesischen Städten wie Nanchang prägen Hochhäuser mit rund 20 Stockwerken das Bild. Zudem ist das dortige Klima wärmer als in der Schweiz, die sich den Gästen übrigens gerade im schmucken Winterkleid präsentierte.
Aber der Emmentaler Josef Jenni ist für sie lebendiger Beweis dafür, dass sich innovative Ideen, beharrlich verfolgte Visionen und stets weiterentwickeltes Know-how auszahlen – für den Unternehmer und seine Mitarbeiter, die Kunden und die Umwelt.
Beim Thema Schweizer Landschaft wird Xiaoyan Huang, die «Aussenministerin» der Stadt Nanchang, ein wenig gesprächiger, Interlaken ist ihr eine Erwähnung wert. Und beim Stichwort Shopping blüht sie vollends auf, hat sie sich doch für sich und ihre Familie mit Schweizer Uhren und Schweizer Schokolade eingedeckt. «Sie haben natürlich auch meisterhaft konsumiert», sagt Yufan Jiang mit feinem Lächeln.
Vom 4. bis 23. Dezember weilte eine rund 30-köpfige Delegation aus China für einen Führungskurs in der Schweiz.
Die Delegation bestand aus Vize-Bürgermeistern von Millionenstädten und hohen Regierungsbeamte aus Jiangxi. Die Provinz im Südosten Chinas zählt rund 44 Millionen Einwohner.
Organisiert wurde der Workshop von Jürg Schneider und Yufan Jiang, beides Dozenten an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW).
Programm-Schwerpunkte waren die direkte Demokratie und das Verwaltungssystem der Schweiz, Raumentwicklung, Aspekte der Sozialpolitik sowie umweltschonende Technologien.
Die Teilnehmer trafen sich mit Vertretern von Schweizer Städten, Gemeinden, Nichtregierungs-Organisationen und Unternehmen.
An den Wochenenden besuchten sie Sehenswürdigkeiten und kulturelle Anlässe.
Die Fachhochschule Nordwestschweiz führt bereits seit 1996 Führungsseminare für Politiker aus China durch. Initiant war Peter Abplanalp, der ehemalige Direktor der Fachhochschule Solothurn, der Vorgänger der FHNW.
Mit den Programmen hat sich die Fachhochschule in den letzten Jahren in China bis in Regierungskreise einen guten Namen gemacht.
Unter diesem Namen bietet die Fachhochschule Nordwestschweiz ihren Bachelor-Studenten ein interdisziplinäres Studienprogramm an.
Ziel ist es, die Studenten mit Geschäftspraktiken in China vorzubereiten.
Im ersten Teil in der Schweiz machen Referentinnen und Referenten die Studenten mit den Besonderheiten von Politik, Management, Recht und Kultur in China vertraut.
Im zweiten Teil erhalten die Teilnehmer während zweier Wochen in China einen direkten Einblick in das dortige Geschäftsleben.
Das Thema des nächstjährigen Kurses lautet «From Made in China to Designed in China». Die Teilnehmerzahl ist auf 17 beschränkt.
Sie werden neben Peking und Schanghai auch Chengdu besuchen, das wichtigste Industriezentrum Chinas.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch