Häusliche Gewalt in der Schweiz: Das Leid hinter den Zahlen
Die Schweiz ist für ihre tiefe Kriminalitätsrate bekannt. Bei der häuslichen Gewalt zeigt sich aber ein anderes Bild. Bisherige Massnahmen haben nicht zu einem Rückgang geführt. Wieso greifen sie nicht?
Stellen Sie sich vor, dass Sie sich in Ihrem Haus nicht sicher fühlen, dass Sie Angst vor der Person haben, mit der Sie Ihr Leben teilen, dass Sie nicht einmal in der Lage sind, einen Anruf zu tätigen, um Ihr Leben zu retten, oder dass Sie auf Schritt und Tritt verfolgt werden.
Genau dies ist die Situation von Opfern häuslicher Gewalt, und es ist für sie extrem schwierig, Hilfe zu suchen.
«Sie schämen sich oft und sind sehr isoliert. Deshalb wollen wir sichere und zugängliche Orte schaffen, an denen sie um Hilfe bitten können, und die Apotheken sind der perfekte Ort dafür», sagt Maribel Rodriguez, Direktorin des Waadtländer Büros für die Gleichstellung von Frauen und Männern.
Am Montag hat das Amt eine neue Initiative lanciert: Alle Apotheken in den Kantonen Waadt, Genf und Neuenburg, deren Personal für die Hilfe und Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt geschult ist, sollen mit einem entsprechenden Label gekennzeichnet werden.
Dies geschieht nur wenige Tage, nachdem Italien von der barbarischen Ermordung einer 22-jährigen Frau durch ihren Ex-Freund erschüttert wurde. Der schreckliche Vorfall hat die nationalen und internationalen Medien dazu veranlasst, das weit verbreitete Problem der geschlechtsspezifischen Gewalt und der Femizide zu thematisieren und diskutieren.
Wie steht dabei die Schweiz da?
Warum nimmt häusliche Gewalt in der Schweiz nicht ab?
Im Jahr 2022 registrierte die Schweizer Polizei über 19’000 Fälle von häuslicher Gewalt. Vergleicht man dies mit anderen Ländern wie England und Wales, die bei einer sechs Mal so hohen Bevölkerungszahl rund 1,5 Millionen Fälle von häuslicher Gewalt verzeichnen, mag diese Zahl beruhigend wirken. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch ein differenzierteres Bild.
Die Zahl der häuslichen Gewaltdelikte ist 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 3,3% gestiegen. «Das könnte aber vor allem daran liegen, dass mehr Menschen das Problem melden, so dass wir im Grunde eine Stagnation der häuslichen Gewalt in der Schweiz feststellen», sagt Gian Beeli vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann gegenüber SWI swissinfo.ch.
Das Problem ist genau diese Stagnation. Rodriguez sagt, dass ihr Team bereits an zahlreichen Projekten arbeitet, um den Opfern sichere Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und die Kommunikation zwischen den kantonalen Polizeibehörden zu verbessern.
Aber «die häusliche Gewalt ist in der Schweiz hoffnungslos stabil. Trotz all der Arbeit, die wir mit lokalen Behörden und Spitälern geleistet haben, scheinen die Zahlen nicht zu sinken», sagt sie.
Während die Mordrate in der Schweiz relativ niedrig ist, bleibt die Zahl der Femizide, also jener Frauen, die von ihren Partnern, Ex-Partnern oder Familienmitgliedern getötet werden, immer noch hoch. Häusliche Tötungsdelikte machten im Jahr 2022 rund 59% aller in der Schweiz begangenen Tötungsdelikte aus.
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Frauenhäuser unter Druck
Und wenn es stimmt, dass immer mehr Opfer häusliche Gewalt anzeigen, könnte die Schweiz in naher Zukunft nicht mehr in der Lage sein, deren Bedürfnisse zu decken.
«Immer mehr Menschen rufen bei uns an und bitten um Hilfe, aber die Frauenhäuser werden nicht grösser und wir haben nicht genügend Plätze», sagt Blertë Berisha, Co-Direktorin der Dachorganisation der Frauenhäuser (DAO) in der Schweiz und Liechtenstein.
Im Jahr 2022 waren praktisch alle Plätze in den Frauenhäusern belegt, was dazu führte, dass das Personal unter Druck stand und einige Frauen in Hotels untergebracht werden mussten. «Diese Situation ist angesichts des Risikos und der Dringlichkeit solcher Fälle inakzeptabel», sagt Berisha.
Sie fordert nun mehr Unterstützung sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene.
«Wir brauchen eine sichere und stabile Finanzierung, nicht nur eine Ad-hoc-Finanzierung», sagt sie. Doch vor ein paar Tagen hat die Schweizer Regierung die finanziellen Prioritäten für die nächste Legislaturperiode festgelegt und «sie haben beschlossen, die Kampagnen für die Gleichstellung zu reduzieren und teilweise aufzuschieben», sagt Beeli.
Die Schweiz ist 2017 der Istanbul-Konvention des Europarats beigetreten, was bedeutet, dass sie sich zur Prävention und Bekämpfung dieser Formen von Gewalt verpflichtet hat, aber es gibt noch viel zu tun.
«Die Realität ist, dass die Schweiz immer noch hinterherhinkt, wenn es darum geht, spezifische sichere Räume für gefährdete Personen anzubieten», so Berisha weiter.
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So gibt es in der Schweiz nur ein einziges Mädchenhaus und keine Schutzhäuser für die LBGTQ+-Gemeinschaft, für Menschen mit Behinderungen und für Frauen mit psychischen Erkrankungen.
«Das ist einfach nicht genug», sagt Berisha. «Vor allem, weil häusliche Gewalt eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Ich sehe, dass in der Schweizer Gesellschaft die Tendenz besteht, Migrant:innen für solche Verbrechen verantwortlich zu machen, aber die Wahrheit ist, dass sie ein Produkt der patriarchalischen Gesellschaft sind, in der wir leben».
Das eigentliche Problem, so Berisha, ist, dass geschlechtsspezifische Gewalt das Ergebnis einer patriarchalischen Mentalität ist, die Frauen auf das Eigentum der Männer reduziert.
«Es ist deprimierend, wenn man bedenkt, dass häusliche Gewalt nur die Spitze des Eisbergs ist. Es gibt Frauen, die jahrelang im Stillen leiden, physisch und psychisch, und wir wissen oft nicht, was wirklich vor sich geht. Wir sind völlig blind», fügt Maribel Rodriguez hinzu, die einen Kulturwandel für notwendig hält.
«Wir müssen bei der Bildung ansetzen, wir müssen jungen Menschen beibringen, Frauen zu respektieren und diese Gewalt nicht auch in ihrer Generation zu verüben. Häusliche Gewalt ist kein isoliertes Phänomen, sie ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt».
Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?
Auf internationaler Ebene ist es äusserst schwierig, Zahlen zu häuslicher Gewalt und Femiziden zu vergleichen, vor allem, weil sich nicht alle diesen Begriff gleich definieren und die Länder Tötungsdelikte an Frauen im privaten Bereich unterschiedlich erfassen.
«In der Schweiz haben wir beschlossen, das Wort Femizid nicht zu verwenden, weil es keine klare Definition gibt», erklärt Beeli.
Eine statistische Analyse des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zieht einen teilweisen Vergleich der Mitgliedstaaten.
Im Jahr 2020 war die Zahl der Tötungsdelikte an Frauen und Mädchen durch ein Familienmitglied oder einen Partner pro 100’000 Einwohner:innen in der Schweiz höher als in Ländern wie Italien, Spanien und Frankreich.
Die Schweizer Zahl war jedoch niedriger als in Ländern wie Finnland, Deutschland und Island. Die UNODC-Daten zeigen, dass Namibia, Russland und Argentinien trotz begrenzter Erhebungsmöglichkeiten die höchsten Werte verzeichneten.
Trotz ihres Rufs, eines der sichersten Länder der Welt zu sein, wies die Schweiz im Jahr 2021 immer noch eine höhere Rate an Tötungsdelikten an Frauen im häuslichen Bereich auf als der europäische Durchschnitt.
«Es ist also auch unsere Pflicht, die traditionellen Stereotypen über die Rolle der Frau auszumerzen, die oft zu Gewalt gegen Frauen führen», sagt Beeli.
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Ein Ort für Männer in Not
Aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger.
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