Im Theater ist das Handicap ein Erfolg
Die Zürcher Theatergruppe HORA, die sich aus professionellen Schauspielern mit einer geistigen Behinderung zusammensetzt, hat am 26. Mai in Genf den Schweizer Grand Prix Theater/Hans Reinhart-Ring erhalten. Die Schauspielerinnen und Schauspieler wissen um ihre Behinderung und spielen humorvoll damit. Eine Begegnung.
Der Schweizer Grand Prix Theater/Hans-Reinhart-RingExterner Link wurde vor drei Jahren vom Bundesamt für Kultur (BAK)Externer Link gegründet und ging in den Jahren 2014 und 2015 an Omar Porras respektive Stefan Kaegi. Die Arbeit dieser beiden Regisseure ist auf den grössten Bühnen der Welt gezeigt worden, von Europa bis Lateinamerika über den Orient, was für das Schweizer Theater viel Prestige bedeutet.
2016 ging der Grand PrixExterner Link nun an das Theater HORAExterner Link. Die Zürcher Gruppe setzt sich aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit einer geistigen Behinderung zusammen und hat sicherlich nicht die gleiche Ausstrahlungskraft im Ausland wie Porras und Kaegi. Sie tritt vor allem im deutschen Sprachraum auf, in der Deutschschweiz, Österreich und Deutschland. Ins Tessin und in die Romandie wurde die Gruppe seit ihrer Gründung im Jahr 1989 nur je zwei Mal eingeladen. Ihr internationaler Erfolg gründet auf einer einzigen Vorstellung: «Disabled Theater» (wir kommen darauf zurück.)
Was beim Entscheid der Jury vor allem eine Rolle gespielt haben dürfte, sind Qualitäten wie der Durchhaltewillen einer Theatergruppe, die trotz der körperlichen und geistigen Schwierigkeiten ihrer Schauspieler nie aufgehört hat, an ihre Arbeit zu glauben. Das BAK zeichnet «eine Institution aus, die seit 25 Jahren Menschen mit einer geistigen Behinderung professionelles Theaterspielen ermöglicht.» Die Direktorin des BAK, Isabelle Chassot, hat dies bei der Verleihung des Grand Prix am 26. Mai in Genf vergegenwärtigt. Sie sagte, für sie sei das Theater HORA eine «Freie Republik».
«Ja, ich bin ein Star»
Freiheit also, aber auch Humor. Zwei Werte, welche die Arbeit des Theaters HORA schön beschreiben. swissinfo.ch trifft den Direktor Giancarlo Marinucci am Tag nach der Preisverleihung. Er kommt in Begleitung des Schauspielers Gianni – und Julia natürlich, dem Star der Gruppe. Jedenfalls wird die Tänzerin und Schauspielerin so wahrgenommen. Mit einem Lachen bestätigt sie: «Ja, ich bin ein Star», bevor sie unbekümmert anfügt: «Aber das wird eines Tages natürlich zu Ende sein». Die talentierte Schauspielerin hat bereits einen Preis gewonnen. Nämlich 2013 den Alfred-Kerr-Darstellerpreis im Rahmen des Berliner Theatertreffens.
Julia identifiziert sich mit Stars des Kinos und amerikanischer Serien wie Victoria Justice, Heldin der Sitcom «Victorious». Gianni hat andere Vorbilder, jene aus dem Universum von «Hunger Games». Er hält eine Videokassette dieser berühmten Serie in den Händen. Er möchte gestützt darauf eine Theatervorstellung inszenieren, erklärt er.
Ah ja, wie das? «Ja, es ist sein grösster Wunsch», erklärt uns Giancarlo Marinucci. «Er hofft, diese Idee im Rahmen des Projekts ‹Freie Republik› verwirklichen zu können, das sechs unserer Schauspieler die Möglichkeit gibt, ihre Vorstellungen und Obsessionen in einer eigenen Inszenierung freizusetzen.» Das Projekt habe übrigens keinen therapeutischen Zweck.
Therapie, nein!
«Wir sind nicht dazu da, unsere Schauspieler und Schauspielerinnen zu ‹behandeln›. Sie sind sich ihrer Behinderung absolut bewusst und gehen sogar so weit, damit zu spielen», sagt Giancarlo Marinucci und nennt in diesem Zusammenhang das Beispiel des «Disabled Theater». Dieses ist sozusagen das Hauptstück der HORA. Um es aufzuführen, hat die Theatergruppe den grossen französischen Choreografen Jérôme Bel an Bord geholt. Diese Inszenierung brachte der Gruppe das internationale Renommee. Wir haben es 2012 am Festival de la Bâtie in Genf gesehen. Es wurde einige Wochen zuvor am Festival von Avignon aufgeführt und 2013 am Herbstfestival in Paris. Diese beiden bekannten Bühnen gaben der Zürcher Gruppe neuen Auftrieb.
Internationaler Erfolg
Seither tourt die Aufführung durch die ganze Welt: Südkorea, Singapur, Brasilien, Vereinigte Staaten, Kanada… und bald Kairo und Abu Dhabi. Mitleid oder Verlegenheit gibt es in «Disabled Theater» nicht. Vor dem Publikum stellen sich die neun Schauspielerinnen und Schauspieler der Reihe nach vor, anschliessend nennen sie ihre Behinderung. Die Realität ihres Handicaps wird nicht unter den Teppich gekehrt. Sie wird im Gegenteil in den Dienst eines Spieles gestellt, wie hier durch den Tanz.
«Ich hatte Angst, dass die Aufführung das Publikum schockieren würde. Aber in allen Ländern, wo wir waren, hatten wir aufmerksame und respektvolle Zuschauer», sagt Marinucci. Keinen Voyeurismus, weder im «Disabled Theater» noch bei anderen Aufführungen. Bei anderen Stücken drückt sich die Theatergruppe durch Musik («Normalität. Ein Musical»), Science Fiction («Mars Attacks!») oder durch eine Tragödie («Faust») aus. In allen Fällen wird die individuelle Erfahrung der Schauspieler eingesetzt, um eine Atmosphäre zu schaffen. «Wir sind sehr nahe an ihrem Geschmack. Einer unserer Schauspieler liebt beispielsweise den gotischen Stil, er trägt Ringe und Ketten», erzählt der Theaterdirektor.
Mode, Kino, Musik, Theater: Das sind wertvolle Inspirationsquellen. «Die Regisseure, die mit uns arbeiten, fragen die Schauspielerinnen und Schauspieler immer als Erstes, was sie kürzlich gesehen oder gehört haben», sagt Giancarlo Marinucci. Sie leben in einer Welt, in der sich Wahrnehmungen und Ausdrucksweisen von den unseren unterscheiden. «Was nicht heisst, dass unsere Schauspieler und Schauspielerinnen nicht normal wären», betont der Direktor. Eine Normalität, die sich ihren eigenen – berührenden – Wortschatz bewahrt.
Theater HORA
Nach einem ersten Projekt im Jahr 1989 gründete der Theaterpädagoge Michael Elber die Gruppe HORA, die als eine der wenigen professionellen Schweizer Theater mit geistig behinderten Schauspielern und Schauspielerinnen zusammenarbeitet. Die Gruppe umfasst 14 professionelle Darsteller sowie 5 Auszubildende, die in künstlerischen und kulturellen Ateliers ausgebildet werden. Die Mehrheit der Schauspielerinnen und Schauspieler sind zwischen 20 und 30 Jahre alt.
Die Aufführungen finden hauptsächlich in der Roten Fabrik in Zürich statt. Seit 2003 gehört die Gruppe zur Stiftung Züriwerk, einer Zürcher Institution für geistig Behinderte. Der Ruf der Theatergruppe reicht bis über die Landesgrenzen hinaus. 1998 hat sie einen Preis des Sozial- und Kulturfonds der Gastronomiegruppe ZFV erhalten und 2015 den Anerkennungspreis der Paul Schiller Stiftung. Das berühmteste Stück «Disabled Theater» wurde 2013 mit einem Schweizer Tanzpreis ausgezeichnet.
Welche Besonderheiten können Schauspielerinnen und Schauspieler mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung ins Theater einbringen? Teilen Sie uns Ihre Meinung in den Kommentaren mit.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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