«Wir bewegen uns direkt Richtung Resistenz gegen alle Antibiotika»
Zwei Professoren der Universität Freiburg haben den hartnäckigsten Bakterienstamm entdeckt, der jemals gefunden wurde. Er widersteht zwei Antibiotika-Familien, die als Reserve-Antibiotika eingesetzt werden. Eine Entdeckung, welche die medizinische Welt beunruhigt.
Haben wir angesichts der zunehmenden Resistenz einiger Krankheiten gegenüber Medikamenten der modernen Medizin unsere letzten Trümpfe verspielt? Professor Patrice Nordmann, Inhaber des Lehrstuhls für Mikrobiologie an der Universität Freiburg (UNIFR) und Direktor der Abteilung «Zunehmende Resistenz gegen Antibiotika», bestätigt: «Wir bewegen uns direkt in Richtung einer Resistenz gegen alle Antibiotika.»
Im Dezember 2015 haben er und sein Kollege Laurent Poirel in der Schweiz den ihren Angaben nach hartnäckigsten Bakterienstamm der Welt entdeckt. Dieser widersteht jenen zwei Antibiotika-Familien (Colistine und Carbapeneme), die als letzte Möglichkeit eingesetzt werden, um Patienten zu retten, die stark von Infektionen mit Enterobakterien betroffen sind. Solche findet man normalerweise im Darm von Mensch und Tier. Die weit verbreiteten Bakterien sind unter anderem verantwortlich für Blutvergiftungen, Lungenentzündungen und Spitalinfektionen. Ihre Entdeckung publizierten sie Anfang Januar in der Fachzeitschrift «The Lancet Infectious Diseases».
China in Alarmbereitschaft
Ende November 2015 entdeckten Forscher der landwirtschaftlichen Universität Kanton in China ein neues Gen («mcr-1»), das dafür verantwortlich war, dass gewisse Bakterien gegenüber einem von zwei Antibiotika-Gruppen resistent wurden, die als letzte Möglichkeit zur Rettung von Schwerkranken eingesetzt wurden: die Polymyxine (Colistin). Dieses Gen, das kopiert und leicht auf ein anderes Bakterium übertragen werden kann, wurde bei Tests in verschiedenen Regionen Chinas bei rund 1300 hospitalisierten Personen und in der Tiermast gefunden.
Die Forscher gehen davon aus, dass diese Colistin-Resistenz via das bekannte Gen vom Tier produziert wurde, bevor es auf den Menschen übertragen wurde. Man glaubte, dieses Phänomen käme zu diesem Zeitpunkt nur in China vor, wo Colistin in der Veterinärmedizin breit eingesetzt wird. Nun wurden Anfang Jahr ähnliche Fälle auch in Deutschland und in der Schweiz gefunden. Allerdings ist der Bakterienstamm, der von der Universität Freiburg entdeckt wurde, viel beunruhigender, weil er auch gegenüber zwei Antibiotika-Familien für absolute Notfälle resistent ist.
Seither wurden weitere Fälle entdeckt, namentlich in der Schweiz und in Deutschland. Es ist der Beweis, dass sich solche Phänomene nicht mehr nur auf Länder wie China beschränken, wie man laut neusten Studien glauben könnte (siehe Kasten).
Nordmann vermutet, dass es sich bei den Schweizer Fällen um eine Übertragung dieses Resistenz-Mechanismus› vom Tier auf den Menschen handelt. Darauf deute «sein starkes Verbreitungspotenzial» hin. Wie andere Ärzte ruft er dazu auf, den Einsatz der fraglichen Antibiotika, die in Europa und der Schweiz grossflächig bei der Behandlung von Vieh benutzt werden, rasch einzuschränken. Zudem stellte die Europäische Union kürzlich eine Anfrage, die Verwendung von Colistin in der Tierwelt neu zu bewerten.
Mehrere Fälle in der Schweiz
Alles fängt am 28. Dezember 2015 an. Ein 80-jähriger Genfer besucht seinen Arzt wegen einer Harnwegsinfektion. Die Blutanalyse zeigt einen besonders resistenten Stamm von Kolibakterien. Das berühmte Enterobakterium ist verantwortlich für diese Art von Infektionen.
Der Generalist, der nicht weiss, welches Antibiotikum er dem Patienten verschreiben soll, schickt den seltsamen Bakterienstamm an die Mikrobiologie-Abteilung der UNIFR. Er will von deren Vorsteher Patrice Nordmann eine Meinung einholen. Die Abteilung erhält regelmässig solche Proben aus aller Welt zur Analyse.
Dank eines neuen Diagnose-Schnelltests für Antibiotika-Multiresistenzen, den zu entwickeln sie im Begriff sind, machen die Freiburger Forscher eine verblüffende Entdeckung. «Wir haben den ersten Kolibakterien-Stamm auf der Welt isoliert, der nicht nur den Polymyxinen (oder Colistinen) widersteht, aber auch ein Gen, das resistent gegen Carbapeneme ist, also gegen die beiden grossen Antibiotika-Familien, die als letzte Chance im Fall einer Infektion mit Enterobakterien gelten», erklärt Nordmann.
Mit anderen Worten: Dieser Bakterienstamm hat die zwei Mechanismen erworben, die es ihm ermöglichen, jene Antibiotika unwirksam zu machen, die oft bei Intensivpatienten eingesetzt werden, aber auch dazu, Infektionsrisiken in der Chirurgie und bei Transplantationen zu verhindern. «In nächster Zukunft wird kein Impfstoff verfügbar sein, der gegen multiresistente Enterobakterien wirksam ist. Sollten sich diese Resistenzen weiter verbreiten, würde das die Totenglocke für die Entwicklung der modernen Medizin läuten und uns ins präantibiotische Zeitalter der 1930er-Jahre zurückschicken», warnt der Mediziner. So könnte eine einfache HNO-Operation (Hals, Nase, Ohren) gefährlich werden, weil diese Körperteile zu viele Bakterien enthalten, die eine möglicherweise tödliche Infektion auslösen können.
Sollten sich diese Resistenzen weiter verbreiten, würde das die Totenglocke für die Entwicklung der modernen Medizin läuten und uns ins präantibiotische Zeitalter der 1930er-Jahre zurückschicken.
Ansteckungsrisiko
Ausser dem Genfer Patienten wurden in der Schweiz zwei weitere Fälle identifiziert, beide in Neuenburg. Es handelte sich dabei um viel gravierendere Fälle, nämlich um Blutvergiftungen (Eintritt eines Pathogens in die Blutbahn). Diese Keime können zwischen 6 und 12 Monate unter anderen im Verdauungstrakt verbleiben (Besiedelung) und bei Körperkontakt einfach einer anderen Person übertragen werden. Das heisst, sie verbreiten sich relativ stark.
Auch wenn das Ansteckungsrisiko recht hoch ist, riskieren gesunde Menschen jedoch wenig, glaubt Nordmann. «Die Schwere dieser Art von Infektion zeigt sich erst bei stark erkrankten Patienten. Es sind also vor allem die Krankenhäuser, die gefordert sind. Im Fall einer Kontaminierung kann man nur noch wenig machen.»
Vom Tier auf den Menschen
Die Herkunft des Schweizer Bakterienstamms bleibt momentan noch unbestimmt. Nordmann und sein Team aber haben stark die Tierwelt im Verdacht. «Der Einsatz von Colistin, einem so genannten Reserve-Antibiotikum für den Menschen, ist in der Tiermedizin weit verbreitet, in Europa wie in der Schweiz. In anderen Ländern wie China wird es sogar dem Tierfutter beigemischt, um das Wachstum zu beschleunigen», so der Professor.
«Bereits die Tatsache, dass der gleiche Typus von Resistenz sowohl bei Menschen wie auch bei Tieren gefunden wurde, lässt darauf schliessen, dass es zu einer Übertragung vom Tier auf den Menschen gekommen ist», sagt Nordmann. Diese Übertragung kann über den Konsum von Fleisch oder kontaminierter Milch geschehen, wie auch über direkten Kontakt. Erstaunlicherweise wäre eine solche aber auch möglich beim Verzehr von Gemüse, das in einem von Tierfäkalien kontaminierten Boden gewachsen ist.
Für Patrice Nordmann ist es zwingend, so bald wie möglich die Verbreitung solcher multiresistenter Bakterienstämme zu unterbinden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die verschiedenen Beteiligten im Gesundheitsbereich auf internationalem Niveau rasch mobilisiert werden, um den Einsatz gewisser Antibiotika wie Colistine in Tiermedizin und -zucht zu verringern. Und mit Diagnose-Schnelltests wie jenem der UNIFR sollen die Träger (menschliche und tierische) dieser Resistenzgene identifiziert werden.
Der Kampf geht langsam voran
Das Bundesamt für GesundheitExterner Link (BAG) hat die Entdeckung eines ultraresistenten Bakterienstamms durch die Uni Freiburg nicht kommentiert. Es bestätigt aber, dass Bern grosses Interesse an diesem Phänomen zeige, da sich die Antibiotika-Resistenz in der ganzen Welt verbreitet. «Es gibt in der Schweiz noch Schwachstellen bei der Kontrolle von Antibiotika-Resistenzen und deren Einsatz», erklärt BAG-Sprecherin Katrin Holenstein.
Der BAG hat im November 2015 die Strategie Antibiotika-ResistenzenExterner Link verabschiedet, die 35 Massnahmen zur Garantie der langfristigen Wirksamkeit dieser Medikamente enthält, sowohl beim Menschen wie beim Tier. Parallel dazu sind Studien via das Nationale Forschungsprogramm «Antimikrobielle Resistenz» im Gang.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und VeterinärwesenExterner Link erklärt, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt weder bei einem Tier noch in Nahrungsmitteln in der Schweiz ein antibiotika-resistentes Gen gefunden wurde. Das Bundesamt schätzt, dass eine Übertragung eines solchen Resistenz-Mechanismus vom Tier auf den Menschen möglich ist. Es schlägt grundlegende Hygiene-Massnahmen vor, um sich gegen allfällige Risiken zu wappnen: Fleisch kochen, sich nach einem Kontakt mit Tieren die Hände waschen, etc.
Das Bundesamt präzisiert auch, dass Colistin, für das es keine Alternative gebe, sehr wohl in der Schweizer Veterinärmedizin angewendet wird, vor allem gegen Durchfall bei Schweinen und um der Übertragung von Krankheiten vorzubeugen. Die vorgeschriebenen Dosen wurden allerdings stark verringert.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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