Hashim Thaçi – Volksheld unter Verdacht
Hashim Thaçi orchestrierte aus der Schweiz den kosovarischen Freiheitskampf. Um ihn herum geschahen damals schlimmste Verbrechen. Was geht auf sein Konto?
Als Hashim Thaçi vor 30 Jahren eine Armee gründete, schuf er zwei Namen, die sich einbrannten. Sich selbst nannte er «Gjarpri», die Schlange. Die Armee nannten sie UÇK, die kosovarische Befreiungsarmee.
Hashim Thaçi, heute 55, geboren in einer Bauernfamilie, acht Kinder ein Raum, die Toilette im Hof. Aufgewachsen im 300-Seelen-Dorf Burja in den rebellischen Drenica-Bergen.
Partisan, Politiker, Präsident
Im Kosovo ist er heute die ikonische Figur des Freiheitskampfs gegen Serbien. Der gebirgige Balkanstaat befreite sich vor 30 Jahren von der einstigen Grossmacht, deren Provinz er war.
Thaci orchestrierte diesen Kampf und prägte den Kosovo über Jahrzehnte, ab 1995 als Partisanenführer, ab 2000 als Politiker, von 2016 an als Staatspräsident.
Jetzt steht er mit drei Mitangeklagten in Den Haag vor Gericht. Es geht um über 100 Morde, über 400 Fälle von Folter und Verschleppung, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anklage am Sondertribunal für den Kosovo konzentriert sich auf die Zeit des Kosovokriegs, 1998 und 1999.
Die Ermittlungen dazu dauerten Jahrzehnte. Bereits 1999 hatte die Schweizerin Carla del Ponte damit begonnen, die einstige Chefanklägerin des Haager Kriegsverbrechertribunals für Jugoslawien. Doch ihre Erkenntnisse über die Verbrechen der kosovarischen Seite brachte sie nicht zur Anklage. Sie deponierte diese 2008 in ihren Memoiren.
Waffenhandel, Kriegsverbrechen
Dann, 2010, nahm der Schweizer Sonderermittler Dick Marty im Auftrag des Europarats den Faden wieder auf. Auch er nannte handfeste Kriegsverbrechen, auch Waffenhandel, Drogenhandel, Organhandel. Im Zentrum der organisierten Kriminalität sah er stets: Hashim Thaçi.
Aber Beweise? Dick Marty blieb sie schuldig, wegen eingeschüchterten Zeugen und der Verschwiegenheit der kosovarischen Clans, wie er sagte.
Dieser wies alle Vorwürfe zurück. Nachdem ihm bisher nichts nachzuweisen war, scheut die EU nun keinen Aufwand. 312 Personen stehen auf der Zeug:innenliste.
Griff zu den Waffen
Die Geschichte des jungen Staats Kosovo ist eng mit Thaçi verknüpft – und mit der Schweiz, wo er in den entscheidenden Jahren agierte.
Im Jahr 1989 hebt Serbien unter Slobodan Milošević den Autonomiestatus des Kosovo auf. Die Kosovo-Albaner:innen werden aus Jobs und Schulen gedrängt. Sie steigen auf die Barrikaden, vorerst gewaltlos. Hashim Thaçi ist 21, Student in Pristina. Zunächst ein Aktivist für die kosovo-albanische Sache, sucht er schon bald den Widerstand mit Waffen.
Ab 1993 greifen Partisanentrupps serbische Polizeiposten an, erste Nadelstiche. Die Reaktion Serbiens folgt auf den Fuss. Wegen eines Überfalls auf die Polizei wird Thaçi 1993 angeklagt: Waffenbesitz und Terrorakte. 1994 flieht er vor seinem Prozess in die Schweiz. Es ist auch das Gründungsjahr der UÇK.
Waffen für die UÇK
Diese anerkennt den Freischärler als politischen Flüchtling. Er darf bleiben und erhält ein Stipendium. 1996 schreibt er sich an der Uni Zürich ein und studiert osteuropäische Geschichte. Als Rangierarbeiter verdient er Geld, bald spricht er fliessend Deutsch und Schweizerdeutsch.
Parallel dazu weibelt Thaçi in der kosovarischen Diaspora für die UÇK. Seine Landsleute in der Schweiz fiebern im Patriotismus. Belgrad gängelt die Kosovo-Albaner:innen immer brutaler, was kann man tun?
Thaçi sieht die Chance, die sich bietet. Die UÇK braucht Waffen, Geld und Kämpfer. Er organisiert alles in der Schweiz. In Schweizer Medien wurden die Vorwürfe der Waffenschieberei hundertfach wiederholt, ohne konkreten Beweis, aber nie hat Thaçi dementiert.
30’000 Mann unter Waffen
Innerhalb der UÇK ist er auch zuständig für Ausbildung und Rekrutierung. 130’000 Personen umfasst die kosovarische Diaspora in der Schweiz damals. In ihr wächst der Sog des Freiheitskampfs. Immer mehr kosovostämmige Jungen brechen nach 1995 auf in die Heimat. Bus um Bus fährt man sie von der Schweiz nach Pristina, zeitweise melden sich Hunderte pro Tag zum Dienst. In wenigen Jahren hat die UÇK 30’000 Mann unter Waffen.
Im Kosovo professionalisiert die UÇK ihren Guerillakrieg gegen Serbien. Bald spricht sie von «befreiten Gebieten».
Doch 1998 schlägt Serbien zurück. 400 albanische Ortschaften gehen in Flammen auf, 300’000 Kosovaren werden mordend und plündernd vertrieben: ethnische Säuberung. Damit erreicht der Konflikt eine Stufe, welche die internationale Gemeinschaft alarmiert.
Im Februar 1999 rufen die USA zur Kosovo-Konferenz nach Rambouillet bei Paris. Serbien und die Kosovar:innen sollen den Konflikt am Verhandlungstisch lösen.
Der «unsichtbare Führer»
Das ist die Stunde des Hashim Thaçi. Die USA haben ihn als den starken Mann des Kosovo identifiziert, Chef-Vermittler Bob Dole nennt ihn den «unsichtbaren Führer». Entschlossen betritt der einstige Bauernbub von Burja nun das Parkett der Weltgemeinschaft, betitelt sich selbst als «politischer Direktor der UÇK».
An den Friedensgesprächen führt Thaçi, gerade mal 29 Jahre alt, die kosovarische Delegation an. Der Nato-Oberkommandierende und die US-Aussenministerin bearbeiten ihn. Aber Thaçi bietet beiden die Stirn. Er weigert sich, die UÇK zur Waffenabgabe zu bewegen. Ihm hilft, dass die serbische Seite noch weniger Zugeständnisse macht.
Das Ansehen Serbiens ist ohnehin tief. Serbische Kriegsverbrechen geschehen vor den Augen der Welt: Morde, Vergewaltigungen, Folter, Zwangsvertreibungen, Massengräber. Serbien ist Täterin, Kosovo das Opfer.
Die Friedensverhandlungen scheitern im März 1999. Die NATO startet gleich danach mit Luftschlägen gegen Serbien – ohne UNO-Mandat. Nach drei Monaten zieht Serbien seine Truppen aus dem Kosovo ab.
Thaçis strikte Linie in Paris beschert ihm das Amt des ersten Ministerpräsidenten der jungen Republik.
Noch im Kosovokrieg, im Mai 1999, bringt Thaçis Frau Lumnije in Zürich ihr erstes Kind zur Welt. Die Geburt von Sohn Endrit, «Licht», feiert er in einem Quartier der UÇK im Kosovo.
Noch immer voll bewaffnet
Im Juni 1999 beginnt eine entscheidende Phase. Nach den Nato-Luftschlägen sind die Serben weg, im Kosovo herrscht ein Machtvakuum. Noch immer voll bewaffnet, sorgt die UÇK für die innere Sicherheit.
UÇK-Einheiten besetzen in diesen Monaten Gemeindeverwaltungen und Tankstellen, die Zentren der Macht im ländlich geprägten Staat. Sie starten «Biznis», die zwielichtige Schattenwirtschaft der Clans.
Vor allem aber wütet die UÇK jetzt gegen «Kollaborateure», gegen Roma und die serbische Minderheit. Massenhaft werden politische Gegner verschleppt, in Folterkammern gepeinigt, in Tierställe gepfercht. Die UÇK begeht Verbrechen, die jetzt in Den Haag verhandelt werden.
Aber hat Thaçi selbst gemordet? Oder – zumindest dies: das Morden und Verfolgen mitgekriegt und nicht gestoppt?
Exekutionen im engen Kreis
Bereits im Juni 1999 erscheint in der «New York Times» eine Recherche aus dem Kosovo. Die Zeitung schreibt, Thaçi habe die Exekution von sechs konkurrierenden UÇK-Anführern angeordnet. Der Bericht findet später Eingang in die Akten des Haager Strafgerichtshof.
Im Juli 1999 werden die Leichen von 14 serbischen Bauern aufgefunden, exekutiert bei der Ernte auf offenem Feld. Rache der UÇK? Auch das Massaker von Gracko ist ein Fall für Den Haag.
Erstmals kämpft Thaçi nun um seinen Ruf – und den seiner Truppe.
Da häutet sich die Schlange: Thaci wird Politiker. Seine Anzüge sitzen perfekt, unterstreichen sein attraktives Äusseres. Wie in Paris versprochen, löst sich die UÇK im Dezember 1999 auf. Die Führung gründet eine politische Partei. Thaçi hat den Vorsitz.
Ermittler in Italien, Deutschland und der Schweiz spüren in den Folgejahren dem «Biznis» der einstigen UÇK-Grössen nach. Ans Licht kommen mafiöse Geschäfte: Drogen, Waffen, Prostitution. Thaçi kontrolliere «ein kriminelles Netzwerk», analysiert der deutsche Nachrichtendienst 2005. Angeklagt wird er nicht.
«Ich bin nicht schuldig»
2008 verkündet Thaçi als Regierungspräsident die Unabhängigkeit des Kosovo.
Als er im November 2020 sieht, dass der Prozess gegen ihn unumgänglich wird, sagt er: «Ich lasse nicht zu, dass der Präsident der Republik vor Gericht erscheint».
Er tritt zurück und reist am selben Tag nach Den Haag, die Untersuchungshaft anzutreten.
«Ich bin nicht schuldig», sagt Hashim Thaçi zum Prozessauftakt im April 2023.
Seine Verteidiger argumentieren, dass die UÇK keine reguläre Armee mit Befehlsketten gewesen sei, nur ein loser Verband von Paramilitärs. Wenn am Ende Zweifel bleiben, dann lässt Hashim Thaçi, die Schlange, endgültig alle Vorwürfe hinter sich.
Editiert von David Eugster
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