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Hausgemeinschaft und Alters-WG: Die neue Lust der Alten am Zusammenwohnen

Renaud Tripet auf einer Couch in seinem Wohnzimmer
Renaud Tripet lebt mit Bruder, Schwester und Partnerin im ehemaligen Elternhaus. Die Alters-WG hat sich mehr oder weniger aus den Lebensumständen ergeben – und sie funktioniert. Eva Hirschi

Der immer spätere Eintritt ins Pflegeheim verändert die Wohnformen im Alter. Die Idee der Kommune kehrt zurück – wenn auch in der Schweiz meist in einer Luxusvariante.

„Das Frühstück ist fast ein bisschen unsere Hausratssitzung“, sagt Renaud Tripet. Mit dem 72-Jährigen setzen sich jeden Morgen seine Schwester Anne-Véronique, 67, sein Bruder Jean-Michel, 73, und seine Frau Jocelyne, 72, an den Küchentisch. Gemeinsam besprechen sie die Pläne für den Tag.

Sie sind ein eingespieltes Team: Seit gut 20 Jahren existiert diese Alters-WG in Cernier im Kanton Neuenburg. „Wir sind alle sehr verschieden, aber wir verstehen uns ausgezeichnet“, sagt Renaud Tripet. Das heisse aber nicht, dass sie immer alles gemeinsam machen würden. „Jede Person geht ihrer eigenen Agenda nach. Aber wenn wir zu Hause sind, essen wir gemeinsam.“

Finanziell interessant

Obwohl niemand der vier WG-Erfahrung hatte, entschlossen sie sich zu diesem Schritt. Auslöser war die Krankheit der Mutter, als sie pflegebedürftig wurde, kehrten die zwei Brüder ins Haus zurück, auch Renaud Tripets Frau Joceylne war mit dieser Konstellation einverstanden. „Nachdem meine Mutter gestorben war, lebten wir mit meiner Schwiegermutter und unterstützten sie“, erzählt Renaud Tripet. Nach ihrem Tod beschlossen die drei, als WG weiterzuleben.

Schwester Anne-Véronique kam später auch noch dazu. Das Haus bietet genügend Platz; die Küche, das Wohnzimmer, die Fernseher-Ecke werden von allen gemeinsam genützt, ebenso der Garten und der grosse Balkon mit Sicht bis zum Mont-Blanc.

„Für uns überwiegen klar die Vorteile“, sagt Tripet. Und diese seien unterschiedlicher Art: „Wir bleiben mental dynamisch, und hat jemand mal die Laune im Keller, dann sind drei Personen da, um ihn oder sie aufzuheitern.“

Zudem bringe jede Person andere Kompetenzen mit, so dass man die Aufgaben aufteilen könne. „Meine Frau und meine Schwester kochen sehr gerne und machen dies deshalb oft gemeinsam bei einem Schwatz, ich kümmere mich um das Administrative wie Rechnungen bezahlen oder Buchhaltung führen, mein Bruder um das Technische rund ums Haus.”

Auch finanziell rentiert sich diese Wohnform: „Das Modell ist schlicht konkurrenzlos“, sagt Tripet. Jede Person zahlt ihren Anteil auf ein gemeinsames Konto ein – davon werden alle Kosten rund um das Haus, die Einkäufe, die Versicherungen, die Abos für Handy und Fernsehen gedeckt. „Das kommt uns gemeinsam viel günstiger als in separaten Haushalten.“ Dies gehe aber nur mit Transparenz: Alle vier können jederzeit auf die digitalisierte Buchhaltung zugreifen.

Altersheime weniger gefragt

Auf das Konzept ihrer Alters-WG kamen sie alleine, Renaud Tripet kennt keine andere solche WG. „Ich höre immer wieder von Leuten, die unser Modell interessant finden. Aber viele trauen sich dann doch nicht.“ Wie viele solcher Alters-WGs in der Schweiz existieren, ist schwierig zu eruieren – oft entstehen sie, wie in Cernier, auf private Initiative, im Rahmen der Familie, etwa unter Geschwistern.

Was sich aber zeigen lässt: Seit den 1960er-Jahren nimmt die Belegung in Altersheimen proportional zur Zahl der pensionierten Personen ab. Zwischen 2000 und 2019 hat sich der Anteil an 80-jährigen und älteren Personen, die in Alters- und Pflegeheimen lebten, von 21 Prozent auf 15 Prozent verringert.

„Wer kann, bleibt lieber so lange wie möglich zu Hause und nimmt punktuell oder regelmässig Unterstützung in Anspruch“, sagt Valérie Hugentobler, Professorin an der Westschweizer Fachhochschule für Sozialarbeit in Lausanne. Sie hat an einer nationalen Studie zum Thema Wohnen im Alter mitgearbeitet. Die Erkenntnis: Der Übertritt in ein Alters- oder Pflegeheim geschieht immer später. Derzeit liegt er bei 81,7 Jahren.

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Dies heisse aber nicht, dass diese Personen vor dem Übertritt in ein Pflegeheim keine gesundheitlichen Gebrechen hätten: „Die ambulanten Pflegestrukturen spielen eine sehr wichtige Rolle, und vor allem die Hilfe von Angehörigen.“ In der ganzen Schweiz, insbesondere in der Westschweiz hätten die Kantone ambulante Pflege- und Hausdienste gefördert, die ein längeres Verbleiben alter Menschen in privaten Haushaltungen ermöglichen.

Doch solche Dienste haben Kosten. Ist die Senioren-WG, in welcher man sich gegenseitig unterstützen kann, eine neue Alternative zum Altersheim? „Das Konzept der WG könnte durchaus spannend sein für Personen, die nicht mehr viele Angehörige haben, manchmal Hilfe brauchen, soziale Kontakte wünschen oder deren finanzielle Situation angespannt ist“, sagt Peter Burri Follath von Pro Senectute Schweiz. Von einem neuen Trend will er aber nicht sprechen: „Es handelt sich immer noch um ein Randphänomen.“

Valérie Hugentobler stimmt zu: Auch wenn ihre Studie gezeigt habe, dass die Bereitschaft, in höherem Alter in einer WG zu wohnen, bei denjenigen Personen steige, die schon mal in einer WG gewohnt hätten, so sei eine Studierenden-WG nicht mit einer Alters-WG vergleichbar. „Zwischen der Studienzeit und der Pensionierung liegen gut 40 Jahre, man hat lange Zeit in einem Kleinhaushalt gelebt, ob allein oder mit der Familie, und die Rückkehr zu einem Leben in einer Gemeinschaft ist nicht leicht.“

Hausgemeinschaften statt WGs

Viel üblicher seien sogenannte intermediäre Wohnformen in Form von Hausgemeinschaften, oftmals als Genossenschaft organisiert. Hierbei haben die Bewohner:innen in der Regel ein eigenes Badezimmer und eine eigene kleine Küche, teilweise auch ein Wohnzimmer, würden aber gewisse Gemeinschaftsräume teilen. So im Stürlerhaus in Bern: Einen Steinwurf von der Aare entfernt, steht das grosse Berner Patrizierhaus aus dem Jahr 1659. Hier leben zehn Personen in sieben Wohneinheiten – seit 21 Jahren.

Fassade des Stürlerhauses in Bern
Im Stürlerhaus in Bern leben zehn Personen in einer Hausgemeinschaft – mit sieben separaten Wohnungen und Gemeinschaftsräumen. Dieser Mix aus Privatsphäre und Miteinander gewinnt in der Schweiz als Wohnform im Alter an Bedeutung. Eva Hirschi

„Ich konnte mir nie vorstellen, von zu Hause wegzuziehen“, sagt Richard Hehl, heute 89 Jahre alt und der älteste Bewohner des Hauses. Doch seiner Frau schwebte die Idee einer Hausgemeinschaft vor, um im Alter nicht zu vereinsamen. Mit zwei anderen Frauen suchte sie im Bekanntenkreis nach Gleichgesinnten. Fast fünf Jahre nahm die Planung in Anspruch; schon nur ein geeignetes Haus zu finden, war nicht einfach.

Doch dann stiess die Gruppe auf das Stürlerhaus, konnte es erwerben und umbauen lassen – bei einem denkmalgeschützten Gebäude eine Herausforderung. Ein Anbau für die Nasszellen machte es möglich, dass nun jede Wohneinheit über eine eigene Küche und ein eigenes Badezimmer verfügt. Auch ein Lift wurde eingebaut.

Gemeinsame Projekte

Das gemeinschaftliche Leben finde trotzdem statt, erzählen Bettina Steinlin und Richard Hehl: Eine zusätzliche grosse Gemeinschaftsküche, ein Esstisch, ein Fernsehraum sowie mehrere Gartensitzplätze sollen das Zusammensein fördern.

Jeden Sonntag gibt es einen Brunch, zudem engagieren sich die Bewohnerinnen und Bewohner in verschiedenen Arbeitsgruppen wie etwa Garten, Finanzen, Bau und Kultur. Alle zwei Wochen findet eine Haussitzung statt, bei der die anstehenden Aufgaben besprochen werden. Die Entscheide werden demokratisch gefällt, Sitzungsleitung und Sitzungsprotokoll im Turnus übernommen. Nach der Sitzung wird gemeinsam gegessen.

Bettina Steinlin entschied sich für die Wohngemeinschaft, da sie früh verwitwet war und kurz darauf die Kinder zu Hause auszogen. Sie wollte nicht auf Dauer allein im Einfamilienhaus wohnen. „Meine Kinder sehen, dass es mir gut geht, und das ist auch für sie eine Entlastung“, sagt Steinlin. Die Haussitzungen seien zwar manchmal etwas anstrengend, meint die bald 80-Jährige, „aber dieser Austausch, das Diskutieren, das Aushalten anderer Meinungen hält einen geistig fit.“

Richard Hehl und Bettina Steinlin sitzen am Tisch.
Richard Hehl und Bettina Steinlin geniessen das Zusammenwohnen mit privaten und gemeinsamen Bereichen, wie es eine Hausgemeinschaft erlaubt. Eva Hirschi

Dennoch gibt es auch bei dieser Wohnform Grenzen: Ein Bewohner musste kürzlich wegen Parkinson ausziehen, die Belastung war für seine Ehefrau zu hoch. Er wohnt nun in einer Institution, seine Frau besucht ihn fast täglich, wohnt aber weiterhin in der Hausgemeinschaft. Auch bei den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern wird das Alter langsam zum Thema.

Solange die Gesundheit mitspielt

Bei Pro Senectute kennt man diesen Prozess: „Oft übernimmt die Ehepartnerin oder der Ehepartner im Alter die Pflege“, sagt Burri Follath. „Doch diese sind körperlich oft auch nicht viel fitter. Zudem kann die Situation sehr belastend werden, zum Beispiel, wenn die Partnerin oder der Partner inkontinent wird oder rund um die Uhr betreut werden muss.“ Deshalb werden weitere Modelle gesucht, um Personen, die Betreuungsaufgaben übernehmen, besser zu unterstützen, etwa mittels Coachings oder Entlastungsdiensten.

Valérie Hugentobler von der Fachhochschule für Sozialarbeit in Lausanne findet, dass Pflegedienstleistungen allein nicht reichen. „Lange Zeit stand die Pflege im Vordergrund. Diese ist stark reglementiert, etwa, was die Abrechnung über die Krankenkasse oder die Qualifikationen des Pflegepersonals angeht. Was aber vernachlässigt wurde, ist die Hilfe und Unterstützung bei täglichen Aktivitäten“, sagt Hugentobler.

„Einkaufen, kochen, putzen, rausgehen: Wer keine Hilfe erhält, kann unter Umständen nicht zu Hause wohnen bleiben – selbst, wenn man keine Pflege braucht.“ Hier seien die Politik und die Gesellschaft gefragt: Längst nicht alle Senior:innen könnten oder wollten auf die Unterstützung der Familie zählen – oder können sich Unterstützung Dritter leisten, die im Gegensatz zur Pflege nicht von der Krankenkasse übernommen wird.

Im Ausland sind verschiedene Entwicklungen zu beobachten. Dänemark gilt als Pionierin in Sachen Hausgemeinschaften, auch in Schweden sind sie sehr gefragt und staatlich gefördert. Bei intergenerationellen Wohngemeinschaften ist Deutschland in einer Vorbildrolle in Europa. In Japan, dem Land mit dem höchsten Anteil an Menschen über 65 Jahren, gibt es Altersheime erst seit dem Jahr 2000 – vorher war die Pflege Teil der Gesundheitsfürsorge und fand ausschliesslich in Krankenhäusern statt; in der Regel lebten Grosseltern mit der Familie ihrer Kinder.

Planen, bevor es zu spät ist

Die Wahl der Wohnform im Alter ist individuell. Eine gute Planung sei aber wichtig, sagt Ursula Rettinghaus, Projektleiterin des Kompetenzzentrums Alter der Stadt Bern: „Wichtig erscheint mir, dass man sich möglichst früh aktiv um die Gründung einer Alters-WG kümmern sollte. Wir bekommen gelegentlich Anrufe von Menschen in hohem Alter, die einen WG-Platz suchen, das ist dann aber kaum umsetzbar.“

Dies rät auch Pro Senectute: „Kann man auf einmal nicht mehr Treppensteigen, ist es schon fast zu spät“, sagt Burri Follath. „Die Wohnsituation frühzeitig anzupassen, macht es im Alter einfacher, länger dort leben zu können.“ Dabei kann es auch um bauliche Anpassungen gehen, beispielsweise bei den Treppen, den Schwellen oder im Badezimmer. Aber auch die Entfernung zu Einkaufsmöglichkeiten, dem Arzt oder der ÖV-Anschluss sind entscheidend.

Dasselbe gilt auch für WGs oder Hausgemeinschaften. Auch die WG in Cernier – oder der Club, wie es Renaud Tripet nennt –, beschäftigt sich mit solchen Fragen. „Wir möchten die Badewannen mit Duschen ersetzen, und ich würde gerne einen Lift einbauen lassen.“ Denn eines ist klar: So lange wie möglich möchten die vier das WG-Leben weiterführen.

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