Heini Stucki oder eine verschwindende Welt vor der Linse
Zuerst wurde die Liebe zur Natur geboren, dann die Liebe zur Fotografie, um diese zu schützen. Heini Stucki hat während Jahrzehnten die Region des Grossen Mooses im Seeland beobachtet und Gesichter und Landschaften einer sterbenden Welt mit der Kamera eingefangen. Im Alter von fast 70 Jahren öffnet der Umweltfotograf der ersten Stunde die Türen zu seiner Welt.
Wer in Heini Stuckis Welt eintritt, beginnt eine Reise durch die Zeit. Hinter der Haustür des alten Gebäudes in der Bieler Altstadt befindet sich ein langer Korridor. Der Holzboden knarrt unter unseren Füssen, nichts scheint sich seit dem Bau des Gebäudes verändert zu haben. Eine schmale Wendeltreppe führt uns zum Refugium des Fotografen. Sein Zuhause, sein Atelier, sein Büro und sein Labor; sein ganzes Leben ist hier versammelt, in einem fröhlichen Chaos.
Mit seinen langen weissen Haaren und seinem buschigen Bart bleibt Stucki mit fast 70 Jahren ein Nonkonformist. Wenn er von seiner langen Karriere als Fotograf erzählt, funkeln seine Augen und enthüllen eine rebellische Seele, die sich hinter einem ruhigen Ton und langsamen Gesten verbirgt.
Stolz zeigt er seine neuste Aufnahme: Ein Segelfalter, ein prächtiger Schmetterling mit Zebraflügeln, der vom Aussterben bedroht ist. «Endlich habe ich es geschafft, ihn zu fotografieren», sagt er. Die Fotografie erlaubt ihm zu bewahren, was zerbrechlich oder vergänglich ist und für immer verloren sein könnte.
«Ich begann, mir die Kamera meines Vaters auszuleihen, um durch die Landschaft zu streifen.»
Stucki wurde 1949 in Bern geboren und wuchs in Ins auf, einem kleinen Dorf im Grossen Moos des Seelands am Fuss des Juras in der Westschweiz. Seine Mutter vererbte ihm die Liebe zur Natur, sein Vater, ein Jurist, die Leidenschaft für die Fotografie. «Ich begann, mir die Kamera meines Vaters auszuleihen, um durch die Landschaft zu streifen», erinnert er sich.
Im Gymnasium gefallen ihm naturwissenschaftliche Fächer nicht besonders gut. Der junge Mann drückt seine Liebe zur Natur am liebsten durch die Bilder aus, die er in seiner Freizeit macht. 1969 tritt er in die Fotografieschule von Vevey ein.
«Die Kurse waren sehr technisch und konzentrierten sich auf die kommerzielle Fotografie. Ich wusste, dass ich das nie tun würde», sagt er. Die Lehre ist nicht mit Stuckis Werten vereinbar. Sechs Monate vor Ende des Kurses beschliesst er, sein Studium abzubrechen. «Man sagte mir, ich sei verrückt und würde niemals Erfolg haben.»
Die Gesichter
Während seiner Arbeit als Förster dokumentiert Stucki weiterhin das Leben im Seeland. Er fängt Gesichter ein, zum Beispiel jene der Menschen von Ins. Er zeichnet das Porträt des Schmieds, des Schuhmachers oder des Maulwurfjägers. «Figuren aus einer Welt, die im Verschwinden begriffen war», sagt der Fotograf.
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Dokumentarist einer Welt, die verschwindet
Stucki hat Bilder vor dem Vergessen gerettet, die heute zu einer längst vergangenen Zeit gehören. Ein Werk, dem er seine Bekanntheit durch die Veröffentlichung in der renommierten deutschsprachigen Zeitschrift «Du» verdankt. «Diese Publikation machte mich bekannt und entschädigte mich dafür, dass ich die Fotografieschule nicht abgeschlossen hatte», sagt er.
Es kommen immer mehr Aufträge herein, aber der Fotograf zieht es vor, bestimmte nicht anzunehmen, statt seine Werte zu verraten. «Eines Tages wurde ich gebeten, Fotos von einem Atomkraftwerk zu machen. Ich habe mich natürlich geweigert.»
Der Freidenker beendet auch seine Zusammenarbeit mit einem Biskuit-Fabrikanten, der ihm für seine Aufträge einen zu restriktiven Rahmen auferlegen will. «Der Direktor wollte nicht, dass ich die Arbeiter fotografiere, und er verlangte, dass der Ort aufgeräumt wird, bevor ich fotografiere», sagt er.
«Das Dorf liegt im Sterben: Es gibt kein Geschäft oder Restaurant, und einige Häuser stehen leer.»
Der Wille, sich den Forderungen der Auftraggeber nicht zu beugen, zwingt den Fotografen, seine Frau und seine zwei Kinder, geboren 1975 und 1976, zu einem spärlichen Leben. «Wir haben es gerade so geschafft, über die Runden zu kommen», sagt er. Um sein Einkommen aufzubessern, gibt er in einer Schule Fotokurse, die mit der Entdeckung der Natur verbunden sind. «Wir gingen in den Sümpfen in der Nähe der Teiche fotografieren, und ich zeigte den Kindern die Tiere, die dort lebten», sagt er.
Die Natur
Stucki hat seine Kunst in den Dienst der Natur gestellt. Seine Bilder zeigen zum Beispiel den Asphalt, der die Grünflächen verdrängt. «Ich wollte den Menschen die schönen natürlichen Orte zeigen, die zerstört werden», sagt er.
Als Ökologe der ersten Stunde zögerte der Fotograf nicht, seine Ideen zu verteidigen, auch wenn dies den Zorn einiger Leute auf sich zog. «Ich war zum Staatsfeind Nummer eins für Bauern geworden, die mit grossen Maschinen und Pestiziden produzieren wollten», sagt er.
Sein Engagement ist nicht nur künstlerisch. Er engagierte sich bereits in den 1970er-Jahren in der Schweizer Umweltbewegung, schrieb kritische Artikel und nahm an Anti-AKW-Demonstrationen teil.
Heute ist er erfreut zu sehen, wie sich junge Menschen für das Klima mobilisieren. «Als ich jung war, fühlte ich mich in meinem Kampf allein. Ich bin gerührt zu sehen, dass sich heute junge Menschen massenhaft für die Verteidigung der Umwelt einsetzen.»
Der Traum
Im zweiten Stock seiner Wohnung entdecken wir die improvisierte Dunkelkammer, in welcher der Fotograf viele seiner Aufnahmen entwickelt. Im Raum nebenan befinden sich die Archive von mehr als 40 Jahren seines künstlerischen Wirkens, in Kisten geordnet. «Einiges davon ist bereits digitalisiert worden.» Stucki öffnet eine Schachtel und enthüllt viele Gesichter und Geschichten dahinter, die er unsterblich gemacht hat.
«Heini Stucki ist nie ein distanzierter, gleichgültiger Beobachter. Auf den meisten seiner Fotos schauen uns die Menschen an. Er ist nicht Zeuge anonymer Geschichten aus der Ferne», schreibt der Kunsthistoriker Andreas Meier in einer Monografie über Stuckis Werk.
Der Seeländer sucht mit seiner Kamera auch nach dem längst vergangenen Leben, wenn er die Felder der Region nach archäologischen Spuren durchkämmt – oder feinfühliger ausgedrückt, wenn er Träume sammelt. Auf dem Foto, das er in der Hand hält, laufen zwei geheimnisvolle Silhouetten auf einem Kiesstrand. Das Bild stellt einen nächtlichen Traum des Fotografen dar. «Die Fotografie ermöglicht es, eine andere Realität einzufangen», sagt er.
Gewisse Zugeständnisse an die Moderne hat der Künstler gemacht. Im Lauf der Jahre ist er von Schwarz-Weiss zu Farbe, von analog zu digital übergegangen. Derzeit wandert er durch die engen Gassen des kleinen französischen Dorfs Cemboing. Im Auftrag der Behörden porträtiert er die Einwohnerinnen und Einwohner der kleinen Stadt in der Region Burgund-Franche-Comté, deren Zahl ständig abnimmt. «Das Dorf liegt im Sterben: Es gibt kein Geschäft oder Restaurant, und einige Häuser stehen leer», sagt er.
So wird der Fotograf erneut Zeuge eines vom Aussterben bedrohten Landlebens.
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