Heinrich Anacker: der «Dichter des Führers»
Heinrich Anacker hat an die 180'000 Gedichtbände verkauft. Trotzdem wurde der Schweizer Poet vergessen: Denn begeistert gelesen wurde der "Dichter der braunen Front" vor allem im nationalsozialistischen Deutschland.
Der auflagenstärkste Schweizer Dichter des 20. Jahrhunderts nahm ein tragisches Ende: Heinrich Anacker stolperte am 14. Januar 1971 auf einer Strasse in Wasserburg am Bodensee, schlug mit dem Kopf auf den Asphalt und erlitt einen Schlaganfall.
Anacker starb als Unbekannter, Nachrufe erschienen keine, die Welt schien über sein Ableben vielmehr erleichtert zu sein: Mit seinem Aufprall riss er sein Werk mit in die Vergessenheit – darunter hundert Gedichte, die er zu Ehren Adolf Hitlers geschrieben hatte.
Denn Anacker hatte sich durchaus Ruhm erarbeitet – er war bekannt als «Dichter der Bewegung», «Dichter der braunen Front» oder «Dichter der SA». Und er war äusserst produktiv: Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte er in Deutschland 22 Gedichtbände – bis 1945 wurden 180’000 davon verkauft.
Zahlreiche Gedichte wurden zudem als Militärmärsche vertont, beispielsweise «Von Finnland bis zum Schwarzen Meer», das die «Operation Barbarossa» verherrlichte, den Überfall der Nazi-Truppen auf die Sowjetunion 1941.
Von schönen Gefühlen begeistert
Anacker wurde am 29. Januar 1901 in Buchs, einem Dorf im Kanton Aargau, geboren. Seine Eltern besassen eine Druckerei und eine Verpackungsfabrik. Der Vater Georg Anacker stammte aus Leipzig, Deutschland, wurde aber 1917 Schweizer Bürger, wodurch der Sohn die Schweizer Staatsbürgerschaft erhielt.
Mit 15 begann er Gedichte zu schreiben, über die Jugend und die Liebe. 1921, ein Jahr vor seinem Schulabschluss, im Jahr 1921, gelang es Anacker, seinen ersten Gedichtband in einem kleinen lokalen Verlag zu veröffentlichen: «Klinge, kleines Frühlingslied». Im selben Jahr lernte er die Bäckertochter Emmy kennen, die seine Frau wurde.
Im Interview mit dem Schweizer Literaturkritiker und Journalisten Charles Linsmayer erzählte sie 1984, dass sie sich damals in einen jungen Dichter verliebt hätte, der sich für die Natur und schöne Gefühle begeisterte und aus einer «guten Familie» stammte.
Nach seinem Schulabschluss begann er ein Studium der Literatur und Philosophie an der Universität Zürich. Anacker las romantische Dichter wie Heinrich Heine oder Joseph von Eichendorff, was in seinen Gedichten unschwer erkennbar ist. Er bewunderte auch den Schriftsteller Hermann Hesse, der in der Schweiz lebte. Er besuchte ihn in Montagnola im Kanton Tessin, schickte ihm Briefe, bekam allerdings, soweit bekannt ist, keine Antwort.
1923 unterbrach er sein Studium in Zürich, schrieb sich in Wien ein: Hier kam er über konservative Studentenverbindungen erstmals mit dem Nationalsozialismus in Berührung.
«Ich gestehe, dass ich mich unter dem Eindruck des Elends der Inflation und der Spaltung des Volkes in feindliche Parteien und Klassen in meinem jugendlichen Enthusiasmus von der Synthese nationaler und sozialer Ideen angesprochen fühlte, die mir dort zum ersten Mal begegnete», erklärte der Dichter 1948 bei einer Befragung durch die deutschen Gerichte.
* Klicken Sie hierExterner Link, um das komplette Interview mit dem Literaturkritiker Charles Linsmayer zu sehen
1925 kehrte Anacker zu seinem Studium nach Zürich und zu seiner Frau zurück, blieb aber fasziniert vom Nationalsozialismus. 1927 reiste er an die Nürnberger Kundgebungen, das nationale Treffen der NSDAP.
«Er hörte einmal Hitler sprechen und war ziemlich beeindruckt. Er sagte mir bald: ‹Das ist der Mann, der Deutschland retten wird'», erzählte Emmy Anacker. Emmy studierte Dramaturgie und zog 1928 nach Döbeln in Sachsen, Deutschland, wo sie ein Engagement gefunden hatte. Anacker brach sein Studium endgültig ab und zog zu ihr.
Am 1. Dezember 1928 trat er in die NSDAP-Ortsgruppe mit der Nummer 105.290 und bald darauf in die SA ein. Seine Gedichte blieben davon noch eher unberührt – und erfolglos: «Es waren konventionelle Verse über Jugend, Liebe, Heimat, Natur und Wandern, die wahrscheinlich auf eigene Kosten veröffentlicht wurden und die die Kritiker damals als banal empfanden», sagt Linsmayer.
1932 veröffentlichte Anacker seinen ersten Band mit politischen Gedichten («Die Trommel») im SA-Verlag. Darin änderte der Autor seinen Schwerpunkt völlig und thematisierte mehr die Veränderungen, die das Land erlebte.
«Die faschistische Revolution war im Rhythmus von Anackers Liedern in Deutschland eingezogen, und die Texte mit ihrer geschickten Mischung aus politischer Indoktrination, Aggression und Lob der Natur wirkten in den Köpfen der Deutschen», analysiert Linsmayer.
NSDAP-Preis für Kunst und Wissenschaft
In Deutschland kam Anacker in Kontakt mit nationalsozialistischen Autoren und Intellektuellen. Er traf unter anderem mit NSDAP-Führern wie Julius Streicher zusammen, Professor und Herausgeber der NS-Zeitung «Der Stürmer». 1933 traf er Hitler, in einem Bahnwagen, er soll zu ihm gesagt haben: «Ah… du bist Anacker.»
Bald empfing auch der Propagandaminister Joseph Goebbels den Schweizer Dichter in Audienzen, um über Literatur und die Ausarbeitung von Militärmärschen zu diskutieren, wie die verschiedenen Aufzeichnungen in seinem Tagebuch zeigen.
1936 erhielt Anacker auf dem Parteitag in Nürnberg aus den Händen von Alfred Rosenberg, Hitlers Chefideologe, den damals bedeutenden «NSDAP-Preis für Kunst und Wissenschaft». «Seit vielen jungen Jahren hat SA Anacker unsere Bewegung mit seinen Gedichten begleitet. Als Sänger unserer Zeit belebte er stets die Geister und sang starke Lieder unserer Sehnsucht in immer neuer Traurigkeit», begründete die Partei die Vergabe des Preises damals.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entschied sich Anacker seine Schweizer Staatsbürgerschaft abzugeben. «Ich bin als Deutscher geboren, habe aber durch das Einbürgerungsverfahren meines Vaters meine Staatsangehörigkeit verloren, und zwar gegen meinen Willen, denn ich habe mich immer als Deutscher gefühlt», schrieb er nach dem Krieg an die Behörden.
Mit dem Ausbruch des Krieges nahm Anackers literarisches Schaffen nicht ab: Von 1938 bis zum Kriegsende 1945 veröffentlichte er acht weitere Gedichtbände, darunter «Ein Volk – ein Reich – ein Führer» (1938), «Wir wachsen in das Reich hinein» (1938) und «Marsch durch den Osten» (1943), alle im NSDAP-Verlag Eher, dessen grösster Erfolg Hitlers «Mein Kampf» war.
Dichter-Soldat
Im Jahr 1941 wurde Anacker in die Wehrmacht eingezogen. Doch trotz des Mangels an Soldaten aufgrund der Schwierigkeiten an den verschiedenen Fronten erlaubte Deutschland Anacker, seine Rolle als Parteidichter unter Sold weiter zu spielen. In einer Gefreitenuniform trug er den Truppen seine Gedichte an verschiedenen Fronten vor: Er war in Frankreich, Russland und 1944 im besetzten Norwegen und veröffentlichte danach Bücher darüber. Erst als der Krieg so gut wie verloren war, setzte die Armee Anacker im Lazarett ein, um verwundete Soldaten zu versorgen.
Thematisch haben sich Anackers Gedichte während des Krieges stark verändert. Trugen sie anfangs zur allgemeinen Mobilisierung der Soldaten, zur Rechtfertigung des Krieges und zum unbedingten Glauben an die Qualitäten Hitlers als «Führer» bei, so änderte sich ihr Thema ab dem Moment, als sich Niederlagen auf dem Schlachtfeld einstellten und deutsche Städte bombardiert wurden: Anacker begann zum Durchhalten aufzurufen.
Am 23. April 1945 wurde Anacker in Bayern von der amerikanischen Armee gefangen genommen. In dem Interview mit Linsmayer erzählte Anackers Frau, dass Heinrich Anacker die Monate im Internierungslager zum Reimen nutzte. «Die amerikanischen Soldaten baten um die von ihm handgeschriebenen Gedichte und schickten sie nach Hause», erzählte sie und deutete an, dass sie beeindruckt waren, einen berühmten Dichter zu finden.
Am Ende des Jahres wurde er entlassen und kehrte nicht mehr in sein Haus in Berlin zurück, da die Russen es beschlagnahmt hatten. Stattdessen zog er zu Verwandten in Salach, einem Dorf in Süddeutschland.
«Ich wusste von nichts»
Die Entnazifizierung berührte Anacker nur geringfügig – das Landgericht Göppingen verurteilte ihn 1948 als «Kollaborateur mit geringer Schuld» zu sechs Monaten Freiheitsentzug. Doch ein Jahr später milderte das Oberlandesgericht Baden-Württemberg seine Strafe, indem es ihn nur als «Mitläufer» einstufte.
Während des Prozesses betonte Anacker, er sei sich der Schrecken des Nationalsozialismus nicht bewusst gewesen. Er gestand jedoch, dass er bis zu den letzten Kriegstagen noch an Hitler glaubte. «Im April 1945, als ich als Krankenpfleger das furchtbare Elend der Flüchtlinge erlebte, musste ich erkennen, dass es fast keine Hoffnung mehr gab, den Krieg zu gewinnen.
So rang ich immer wieder mit der Frage: Wie konnte Gott zulassen, dass am Ende nicht die Gerechtigkeit, sondern die materielle Überlegenheit der anderen Seite zu ihrem Sieg geführt hat? Ich war so weit von der Vorstellung entfernt, dass Deutschland an der Katastrophe schuld oder mitschuldig war», erklärte er im August 1948 vor dem Göppinger Tribunal. «So konnte ich keine Verheimlichung vermuten. Die absolute Integrität der Führung war sehr tief in mir verankert.»
1955 zogen Heinrich und Emmy Anacker nach Wasserburg am Bodensee mit Blick auf die Schweiz. Anacker hatte seit seiner Einbürgerung keine Beziehung mehr zu seinem Heimatland – selbst zur nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz nicht.
«Persona non grata»
Das war nicht nur freiwillig. Aus amtlichen Unterlagen geht hervor, dass Anacker mehrere Einreiseanträge stellte, in denen er angegeben hatte, er müsse seine Eltern oder Schwiegereltern wegen einer Krankheit besuchen und Verwaltungsverfahren im Zusammenhang mit einer Erbschaft abwickeln. Die meisten dieser Anträge wurden abgelehnt.
«Die Bitte um Einreise in das Hoheitsgebiet dieses notorischen Unterstützers des Nationalsozialismus wird als äusserst unwillkommen betrachtet. Wir weigern uns, ihm die Grenzen auch nur für kurze Zeit zu öffnen und haben beschlossen, jede weitere Anfrage abzulehnen», schrieb die Bundesanwaltschaft 1948.
1951 veröffentlichte er in kleiner Auflage sein letztes Buch «Goldener Herbst». Doch Anacker war durch das Erbe seiner Eltern mittlerweile finanziell unabhängig, er konnte sich sogar eine Sekretärin leisten, die seine Arbeiten abtippte und archivierte. Bis zu seinem Tod dichtete er unermüdlich weiter. Tausende von Gedichten wurden sorgfältig in Holzkisten aufbewahrt, die heute – nach einem Rechtsstreit mit einem rechtsextremen Verein – im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegen. Die meisten seiner Werke wurden nie gelesen oder veröffentlicht.
Als Linsmayer 1984 die Witwe Anackers in Wasserburg besuchte, erfuhr er von ihr, dass ihr Mann bis zu seinem letzten Tag an seine politischen Überzeugungen geglaubt hatte. Linsmayer verfasste 1984 einige Artikel über Anacker, und wurde dadurch sowas wie sein Biograf. Aber nur aus literaturhistorischen und soziologischen Interessen: Im Gespräch mit swissinfo.ch legte der Literaturkritiker Wert darauf, dass er niemals die Absicht hatte, etwas für Anackers möglichen Nachruhm zu tun.
So spektakulär es sei, dass dieser Autor mit seinen chauvinistischen Propaganda-Versen einer der meistgedruckten «Lyriker» der Schweiz war: «Zu mehr als zu einem bedenkenswerten Beispiel dafür, wie missglückte Literatur von zynischen Machthabern für ihre verbrecherischen Zwecke missbraucht werden könne, taugt er nicht», sagte Linsmayer.
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