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Das schreckliche Schicksal der Schweizerinnen, denen der rote Pass entzogen wurde

Bea Laskowski-Jäggli
Bea Laskowski-Jäggli wurde staatenlos, nachdem sie ihren polnischen Mann heiratete. Mara Truog

Bis 1952 verloren Schweizerinnen, die einen Ausländer heirateten, ihre Staatsangehörigkeit. Während des Zweiten Weltkriegs besiegelte diese "Heiratsregel" das Schicksal von Hunderten von Frauen. Einige starben, andere wurden staatenlos, so wie Bea Laskowski-Jäggli.

«Ich habe Wladislaw 1945 kennengelernt. Er war Gefangener im Internierungslager Büren an der Aare. Ich arbeitete dort als Krankenschwester, als in Europa noch Krieg herrschte. Er war 1939 in die polnische Armee eingetreten und kurz darauf in deutsche Gefangenschaft geraten. Nach drei Versuchen gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Da er Deutsch sprach, wurde er bald als Übersetzer angestellt.

Nach dem Krieg musste er nach London gehen, wo sich die polnische Regierung seit 1940 im Exil befand.

Wir korrespondierten viele Monate lang. Dann sagte ich mir: ‹Wenn du mit Wladislaw zusammen sein willst, musst du England kennen lernen.› Ich fand schnell eine Arbeit. Damals waren Schweizer Hausangestellte in der englischen Bourgeoisie sehr gefragt. So kam ich 1947 nach London. Ich war damals 30 Jahre alt.

Einige Monate und zwei Stellen später lief meine Aufenthaltsbewilligung ab. Was sollte ich tun? Gut, sagten wir, dann werden wir heiraten. Wir werden sehen, wie es läuft.

Im Juni 1947 gaben wir uns im Kreise von Freunden das Jawort. Unsere Familien konnten natürlich nicht dabei sein. Aber es war ein wunderschöner Tag!

Durch die Heirat mit Wladislaw verlor ich allerdings die Schweizer Staatsbürgerschaft. Aber auch die polnische Staatsbürgerschaft habe ich nicht bekommen. Ich wurde staatenlos.

Am Anfang standen uns viele skeptisch gegenüber. Er Pole, ich Schweizerin – wir waren die Ausländer. 1961 bekamen wir beide die britische Staatsbürgerschaft. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden die Dinge besser.»

Die «Heiratsregel»

Silke Margherita Redolfi
Die Historikerin Silke Margherita Redolfi. Foto Design Fischbacher

Bea Laskowski-Jäggli ist eine von 85’200 Frauen, die zwischen 1848 und 1952 aufgrund der «Heiratsregel» das Schweizer Bürgerrecht verloren haben. «Diese Regel war aber nur Gewohnheitsrecht. Weder in den Verfassungen von 1848 und 1874 noch im Zivilgesetzbuch war sie je verankert», sagt Silke Margherita Redolfi, Historikerin und Autorin des Buches «Die verlorenen Töchter».

Die «Heiratsregel» wurde stillschweigend von der alten Eidgenossenschaft übernommen, wo Frauen aufgrund eines Konkordats zwischen den Kantonen den Heimatort ihres Schweizer Ehemannes übernahmen.

Analog dazu erhielt eine Schweizerin bei der Heirat mit einem Ausländer automatisch dessen Bürgerrecht. Dies ermöglichte eine einheitliche Staatsbürgerschaft in der Familie und verhinderte die damals unbeliebte doppelte Staatsbürgerschaft. Einzige Ausnahme: Heiratete eine Schweizerin einen Staatenlosen, hatte sie das Recht, ihre Staatsangehörigkeit zu behalten.

Ausländerinnen im eigenen Land

Verlor eine Frau das Schweizer Bürgerrecht, wurde sie in der Schweiz wie jede andere ausländische Person behandelt. Wenn sie vor dem Zweiten Weltkrieg im Ausland gelebt hatte, durfte sie sich bis zu drei Monate in der Schweiz aufhalten. Hatte sie sich in der Schweiz niedergelassen, musste sie eine Aufenthaltsbewilligung beantragen, die sie in der Regel auch erhielt.

Für diese Frauen gab es auch rechtlich keine Möglichkeit, ihre Staatsbürgerschaft zu behalten, denn «obwohl die ‹Heiratsregel› ein Gewohnheitsrecht war, hatte sie den gleichen Wert wie jedes andere geschriebene Recht», sagt Redolfi.

Verschärfung mit dramatischen Folgen

Während des Krieges verschärfte die Schweiz die «Heiratsregel» noch weiter. Einerseits wurde sie in das während des Krieges geltende Notrecht aufgenommen. Andererseits entzog sie weiterhin Frauen den Schweizer Pass, die Juden heirateten, die von Nazi-Deutschland ausgebürgert worden waren. Sie wurden dadurch staatenlos.

1941 gab es jedoch einen Hoffnungsschimmer. Eine Klausel in Artikel 5 Absatz 5 des Notstandsrechts besagte, dass eine Frau in besonders schweren Fällen wieder eingebürgert werden konnte.

«Viele im Ausland lebende Jüdinnen versuchten dies aus naheliegenden Gründen, aber der Bundesrat lehnte ein Gesuch nach dem anderen ab», berichtet die Historikerin. Nach Ansicht der Behörden griff die Klausel nur, wenn der Standesbeamte, der die Ehe geschlossen hatte, einen Fehler begangen hatte.

Elise et Hans Wollensack
Élise Wollensack und ihr Sohn Hans um 1918 herum. Personalarchiv Silke Redolfi

So kamen auch jüdische Ex-Schweizerinnen in den deutschen Gaskammern ums Leben. Wie die Zürcherin Lea Berr-Bernheim, die in eine jüdische Familie hineingeboren wurde und mit einem Franzosen verheiratet war.

Sie und ihr kleiner Sohn Alain wurden 1944 von der Gestapo verhaftet und wenige Monate später nach Auschwitz deportiert und ermordet, obwohl ihre Familie bei den Schweizer Behörden interveniert hatte.

Dasselbe Schicksal ereilte Élise Wollensack-Friedli. Die gebürtige Thurgauerin, die durch Heirat Deutsche geworden war, wurde 1922 in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Da ihr Heimatkanton 1934 ihren Antrag auf Rückkehr in die Schweiz ablehnte, blieb sie in der Psychiatrie, wo sie 1945 von den Nazis ermordet wurde.

Mitten im Weltkrieg galt das Notstandsrecht, und die Familien hatten keine Möglichkeit, diese Entscheide anzufechten: Das Bundesgericht war machtlos.

Der Widerstand formiert sich

Nach Kriegsende versuchte die Schweizer Regierung, das Notrecht in ordentliches Recht umzuwandeln. Denn, «die ‹Heiratsregel› war ein ideales Instrument, um die Zuwanderung zu regulieren und damit mögliche Unterhaltskosten für Witwen, Waisen oder Arme zu vermeiden, die der Gemeinschaft hätten zur Last fallen können», so Redolfi.

Durch die tragischen Schicksale tausender Frauen alarmiert, setzen sich feministische Vereinigungen für eine Gesetzesänderung ein. Unterstützt von den Medien, namhaften Politikern und der Ikone der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, General Henri Guisan, gelang es ihnen Ende 1952, im Parlament ein Wahlrecht durchzusetzen.

Reportage de la Schweizer Illustrierte sur les femmes déchues de leur nationalité
1951. Reportage der Schweizer Illustrierten über die Erlebnisse von Schweizerinnen, denen die Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Nach dem Krieg trugen die Medien dazu bei, die Öffentlichkeit auf die Situation aufmerksam zu machen. Schweizer Illustrierte Zeitung

Dieses trat am 1. Januar 1953 in Kraft und ermöglichte es Schweizer Frauen, auf dem Zivilstandsamt zu erklären, dass sie ihr Bürgerrecht behalten wollen. Zudem konnten Frauen, die ihr Bürgerrecht verloren hatten, die Wiedereinbürgerung beantragen.

Bis zur vollständigen GleichstellungExterner Link von Mann und Frau dauerte es jedoch noch bis 1992. In der Zwischenzeit waren viele Familien vom Verlust des Schweizer Bürgerrechts betroffen, insbesondere die Nachkommen von Schweizerinnen.

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Sie lebten glücklich zusammen

Auf das Leben von Bea Laskowski-Jäggli hatte der Entzug der Schweizer Staatsbürgerschaft keine derartigen Auswirkungen. Sie und Wladislaw arbeiteten beide viele Jahre im Central Middlesex Hospital im Westen Londons – sie als Laborleiterin, er in der Lohnbuchhaltung. Das Ehepaar kaufte sich ein Haus in Ealing. Sie hatten keine Kinder.

1953, nach der Revision der «Heiratsregel», beantragte Laskowski-Jäggli ihre Wiedereinbürgerung und wurde so wieder Schweizerin.

Wladislaw starb 2006, seine Frau löste ihr Versprechen ein und lebte bis zu ihrem Tod 2016 wieder in der Schweiz. «Ich wollte nicht nach Basel zurückkehren, aber Wladislaw war überzeugt, dass es das Beste für mich sei, also tat ich es.»

Zuvor hatte Laskowski-Jäggli die Asche ihres Mannes in der Familiengruft im polnischen Jaroslaw beigesetzt. «Niemand hätte sich um ihn gekümmert, wenn ich ihn in London gelassen hätte. Dort weiss ich, dass er Blumen hat und alles, was er braucht.»

—–

Die Ich-Erzählung von Bea Laskowski-Jäggli (1917-2016) ist inspiriert von ihrer eigenen Geschichte in Simone Müllers Buch Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach EnglandExterner Link, Limmat Verlag.

Silke Margherita Redolfi, Die verlorenen TöchterExterner Link, Chronos Verlag

Übertragung aus dem Französischen: Melanie Eichenberger

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Gastgeber/Gastgeberin Melanie Eichenberger

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