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«Hierzulande gibt es kein grosses Interesse an den Wahlen»

Bundesrat Guy Parmelin beim Wahlauftakt der SVP in der Swiss Life Arena in Zürich am 26. August 2023. © Keystone / Michael Buholzer

Medial ist der Wahlkampf omnipräsent, die Mehrheit der Wahlberechtigten verzichtet jedoch auf ihr Recht. Zoé Kergomard, eine französische Forscherin an der Universität Zürich, hat die Schweizer Wahlkämpfe untersucht und ist auf einige Besonderheiten gestossen.

Der Wahlkampf für die eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober ist in vollem Gange. Dieser wichtige Termin im politischen Leben der Schweiz wird jedoch von einer Mehrheit der Wählenden gemieden und stösst bei Medien und in der akademischen Welt jenseits der Landesgrenzen auf wenig Interesse.

Zu Unrecht, sagt Zoé Kergomard. Die französische Historikerin, die perfekt Deutsch spricht, hat die Wahlkampagnen in der Schweiz von der Nachkriegszeit bis heuteExterner Link untersucht und dabei einige interessante Beobachtungen gemacht.

swissinfo.ch: Warum interessiert sich im Ausland kaum jemand für die Wahlkampagnen in der Schweiz?

Zoé Kergomard: Das liegt an der Funktionsweise des politischen Systems der Schweiz, das durch den Föderalismus und die Instrumente der direkten Demokratie geprägt ist. Man hat den Eindruck, dass die Geschicke des Landes nicht in diesem Moment entschieden werden, sondern eher bei Volksabstimmungen. Was mir mit meinem Blick als französische Forscherin, die in der Schweiz lebt, auffällt, ist, dass es selbst hierzulande kein grosses Interesse an diesen Wahlen gibt.

Dennoch sind die Wahlkampagnen ein besonderer Moment im demokratischen Leben eines Landes. Die politischen Parteien setzen sich in Szene und versuchen, eine Verbindung zu den Bürger:innen herzustellen. Im Gegensatz zu Volksabstimmungen, bei denen es um eine klare Frage geht, haben die Parteien hier ein weisses Blatt Papier, um ihre Ideen zu präsentieren.

Dies liefert eine Momentaufnahme der politischen Debatte im Land. Vor allem aber, wenn eine Partei ein bestimmtes Thema auf die Tagesordnung setzt, – Umweltschutz schon seit den 1960er-Jahren, Einwanderung besonders seit den 1980er-Jahren etc. – kann sich dies langfristig auf die mediale und politische Agenda auswirken.

Zoé Kergomard (34) ist Oberassistentin am Historischen Seminar der Universität Zürich und Autorin des Buches «Faire campagne: les partis politiques suisses face à l’électorat depuis 1945», das 2023 im Verlag «Le Savoir suisse» erscheinen wird. swissinfo.ch

Die Wahlbeteiligung in der Schweiz sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich (45% im Jahr 2019). Könnten auffälligere Kampagnen, wie sie beispielsweise bei den französischen Präsidentschaftswahlen zu sehen sind, mehr Menschen mobilisieren?

Der Demokratie in Frankreich geht es nicht besonders gut, das haben wir in diesem Jahr an den Spannungen um die Rentenreform gesehen. Zwar ist die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen noch immer recht hoch, aber bei allen anderen Wahlen geht sie zurück, weil die Bürger:innen keinen Sinn mehr darin sehen. Das ist die Kehrseite der Medaille der Hyperpräsidentialisierung der Fünften Republik.

In der Schweiz ist die Wahlenthaltung aufgrund der hohen Anzahl an Abstimmungen in der Regel nur zeitweilig: Viele Bürger:innen gehen dann wählen, wenn sie sich für das jeweilige Thema interessieren. Während der Anstieg der Wahlenthaltung in den 1960er- und 1970er-Jahren noch für viel Diskussionen gesorgt hat, hat sich die relativ niedrige Wahlbeteiligung in der Schweiz seither fast normalisiert und wird im Allgemeinen nicht als Zeichen von Demokratieverdrossenheit angesehen.

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In der halbdirekten Demokratie der Schweiz ist also alles in bester Ordnung?

Eine Frage taucht immer wieder auf, wenn es um die politische Partizipation geht: Wer kann sich am politischen Leben beteiligen und wer bleibt davon ausgeschlossen?

Zum Beispiel liegt der Vorschlag, die politischen Rechte auf Jugendliche ab 16 Jahren auszuweiten, seit einigen Jahren auf dem Tisch. Darüber hinaus zeigen die Schweizer Wahlkampagnen die Besonderheit eines Landes mit hoher Einwanderung, in dem fast ein Viertel der Bevölkerung kein Wahlrecht auf Bundesebene hat, was auf eine der restriktivsten Einbürgerungspolitiken Europas zurückzuführen ist. Auch hier gibt dieses Thema regelmässig Anlass zu Diskussionen.

Wo auch immer man bei dieser Frage ansetzt, kann man davon ausgehen, dass dieser Ausschluss Auswirkungen auf die politische Beteiligung im Allgemeinen hat. An sozialen Orten wie am Arbeitsplatz oder in Vereinen wird zwangsläufig weniger über Politik gesprochen, wenn ein mehr oder weniger grosser Teil der Gruppe nicht teilnehmen kann.

Dies ist eines der Paradoxa des politischen Lebens in der Schweiz: Die Politik ist im öffentlichen Raum sehr sichtbar, aber die grossen politischen Debatten sind in den täglichen Interaktionen der Bevölkerung nicht unbedingt präsent.

Welche weiteren Besonderheiten beobachten Sie in den Schweizer Wahlkampagnen?

Parteien, die keine staatliche Finanzierung erhalten, sind in der Schweiz historisch gesehen schwach, insbesondere im Vergleich zu den grössten Interessengruppen. Es wurde argumentiert, dass diese Schwäche der Parteien und das Milizsystem zu wenig professionalisierten Kampagnen führen.

Doch hinter den Parteien spielen Wirtschaftsverbände seit langem eine Rolle, sowohl in Abstimmungs- als auch in Wahlkampagnen. Darüber hinaus bietet das System der offenen Listen den Kandidat:innen einen Anreiz, in ihre eigene Kampagne zu investieren.

Diese Vielfalt der an den Wahlkämpfen beteiligten Akteur:innen hat es lange schwierig gemacht, die Wahlkampfausgaben genau zu berechnen. In diesem Jahr gelten zum ersten Mal neue Regeln zur Transparenz der Finanzierung. Es wird sehr interessant sein, die Auswirkungen zu untersuchen.

Die Stabilität der politischen Landschaft in der Schweiz ist ebenfalls eine Besonderheit, die im Ausland oft erwähnt wird. Wenn man sich jedoch die Entwicklung der Parteistärken seit Anfang der 1990er-Jahre ansieht, sind einige bemerkenswerte Punkte zu beobachten, insbesondere die starke Zunahme der grünen Parteien und der SVP auf Kosten der traditionellen Parteien. Wird diese Entwicklung unterschätzt?

In der Tat ist dies ein starker Kontrast zu den Jahrzehnten zwischen 1940 bis 1980. Allerdings sind die Stimmenverschiebungen eher zwischen politisch nahestehenden Parteien als zwischen den Blöcken zu beobachten. Ausserdem ist das Parteiensystem in der Schweiz besonders vielfältig, wie man an der Existenz zweier Umweltparteien erkennen kann, von denen die eine eher marktkritisch und die andere eher marktorientiert ist.

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In den 1990er- und 2000er-Jahren gab es auch die ersten umstrittenen Kampagnen der SVP. Markiert dies eine dauerhafte Wende in der Art und Weise, wie in der Schweiz Wahlkampf betrieben wird?

Die von der SVP angewandten Wahlkampfpraktiken sind nicht neu. Bereits in den 1950er-Jahren begannen die Parteien, mehr oder weniger eng mit Meinungsforscher:innen und Werbefachleuten zusammenzuarbeiten. Und es gibt starke Kontinuitäten bei den Mobilisierungspraktiken: So nutzen die Parteien seit den 1920er-Jahren Plakate, um im öffentlichen Raum sichtbar zu sein.

Auch der polemische Charakter der SVP-Kampagnen ist nicht neu. So führte die FDP 1979 eine Kampagne mit dem neoliberal inspirierten Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» durch, die bereits als «amerikanisch» bezeichnet wurde. Und während des Kalten Kriegs wurde der Antikommunismus, der in der Schweiz sehr stark ausgeprägt war, oft dazu benutzt, die linken Parteien zu stigmatisieren.

Auch in der Geschichte der eidgenössischen Wahlen gab es immer wieder persönliche Angriffe. Nach der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene im Jahr 1971 wurden die ersten Kandidatinnen in der Presse sexistisch verunglimpft oder in anonymen Briefen aufgefordert, ihren Namen von der Liste zu streichen.

2007 kam es während des Wahlkampfs zu Ausschreitungen: Linksextreme Schläger:innen griffen eine SVP-Kundgebung auf dem Bundesplatz an. Ist dies ein neues Ereignis in der Geschichte der Schweizer Wahlkämpfe?

Der Diskurs über die Kultur des «Konsens» hat sicherlich eine mässigende Wirkung auf das Verhalten der politischen Akteur:innen. In 2007 wurden sowohl die Gewaltanwendungen als auch die fremdenfeindlichen Auswüchse der betreffenden SVP-Kampagne verurteilt.

Solche Vorfälle sind jedoch nicht einzigartig, insbesondere im turbulenten Kontext der Protestbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahren. 1971 störten beispielsweise junge Lehrlinge der Gruppe Hydra sowie italienische Arbeiter:innen eine Wahlveranstaltung des Rechtsextremen James Schwarzenbach und forderten damit einen Platz in der Schweizer Demokratie.

Kurzum, die Wahlkämpfe in der Schweiz waren oft viel turbulenter als allgemein angenommen wird, und es geht um grosse demokratische Fragen: Wer nimmt teil, wer vertritt wen und welche politischen Probleme werden in den kommenden Jahren Priorität haben.

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